Umbruch in Russland unter veränderten Vorzeichen – oder sein Ende? Teil I

Putins Wahlergebnis war aus Sicht der Opposition deprimierend. Zwar weigerte sich die „Liga der Wähler“, das offiziell verkündete Ergebnis anzuerkennen, aber auch sie ging davon aus, dass der starke Mann des Landes 53% der Stimmen errungen habe.

Zudem war die Beteiligung an der Demonstration der Opposition vom 5. März, dem Tag nach den Präsidentschaftswahlen, hinter den Hoffnungen der Veranstalter weit zurückgeblieben.

Der bekannte Schriftsteller Boris Akunin hatte Anfang Januar erwartet, dass sich Putin in den folgenden zwei Monaten den Protesten werde beugen müssen und nicht Präsident werde. Zwar hatte Nawalny zu dieser Zeit bereits mit einem erheblichen längeren Zeitraum für einen Wandel gerechnet. Gleichwohl waren Hoffnungen zerstoben, auf die Euphorie der vorhergehenden drei Monate folgte Ernüchterung.

Einige der jüngeren führenden Vertreter der Opposition wie Nawalny, Udalzow und Ponomorew forderten zu einer härteren Gangart gegen die Führung auf. Aber, wie ich bereits vor einer Woche geschrieben habe: Ein großer Teil der Gegner Putins wird sich radikalen Schritten verweigern.

Die Protestbewegung des Winters war bemerkenswert friedfertig verlaufen, was allen Seiten zu danken war. Der überwältigende Teil der Opposition wollte bei dieser Linie bleiben, sowohl aus Überzeugung als auch aus Angst. Das zweite Motiv hatte durch das Ergebnis des Urnengangs und die demagogischen Worte Putins vom Wahlabend noch an Gewicht gewonnen.

Beide Seiten verhielten sich in den Tagen nach dem 6. März deeskalierend (einige Dutzend Aktivisten, die an Demonstrationen am 5.3. teilgenommen hatten, blieben allerdings weiter in Untersuchungshaft): Die oppositionelle Zeitung „Vedomosti“ rief dazu auf, die Führung nicht zu provozieren, schließlich fordere die Protestbewegung diese auf, sich an das Recht zu halten. Die „Macht“ und die Opposition sollten aufeinander zugehen, sonst werde das ganze Land verlieren. Dies entsprach einer allgemein verbreiteten Stimmung. Die Stadtverwaltung und die Opposition einigten sich auf einen Ort für die am 10. März geplante Kundgebung. Putin gab bekannt, mit Medwedew über die Neuordnung der Regierungstätigkeit sprechen zu wollen. Die Opposition solle in das politische System „integriert werden“, um eine wirkliche politische Kraft werden zu können, so Putin. Er bekundete auch seine Bereitschaft Grigori Jawlinski zu treffen, der ein Gespräch vorgeschlagen hatte.

Udalzow erklärte seine Bereitschaft zu einem Runden Tisch mit Vertretern der Führung, die Opposition habe den Dialog nie ausgeschlossen. Putin habe der Protestbewegung mehrfach vorgeworfen, kein konstruktives Programm für die Entwicklung des Landes zu besitzen. Udalzow erinnerte daran, die Opposition habe Präsident Medwedew am 20.2. Vorschläge unterbreitet, es werde Zeit, dass sich auch die Führung bewege.

Udalzow hegte aber zugleich noch Hoffnungen, dem Kreml aus einer Position der Stärke entgegen treten zu können: Wenn die Protestbewegung wachse und 100.000 Menschen am 10. März an der Kundgebung teilnähmen, dann werde es rasch Fortschritte geben: Wenn weniger Demonstranten kämen, müsse man sich auf eine länger andauernde Arbeit einstellen.

Die Organisatoren hofften auf eine Beteiligung von 50.000 Protestlern, es waren schließlich jedoch nur zwischen 10.000 (Behörden) und 25.000 (Organisatoren). Das war eine Enttäuschung. Er herrschte Unsicherheit, was als nächstes unternommen werden könnte und sollte. Ein Hoffnungszeichen war immerhin der Erfolg von Graswurzelaktivisten bei den Moskauer Kommunalwahlen vom 4. März.

Am 10. März entschloss sich letztlich auch US-Präsident Barack Obama dazu, Putin zur Wahl zu gratulieren.

 

Es ist Zeit für einen Blick zurück.

 

Eine Einschätzung der Entwicklung der vergangenen Monate

Die Führung des Landes geriet nach den Dumawahlen unter starken Druck. Bis Mitte Januar war sie lediglich in der Lage zu reagieren, die politische Agenda wurde von der Opposition und ihren Forderungen bestimmt. Wie gelang es Putin danach, das Blatt zu wenden? – Über die ungleich verteilten Chancen zwischen der Opposition und der Führung sowie das für die Wähler eingeschränkte Personaltableau habe ich bereits zuvor geschrieben. Ich möchte mich hier darauf konzentrieren, warum sich zwischen Mitte Januar und Anfang März die Kräfteverhältnisse zwischen dem Kreml und der Opposition so deutlich verschoben:

1. Die Führung ging nicht den Weg der Gewalt.

Viele oppositionelle Beobachter äußerten über Monate hinweg die Vermutung, der Kreml werde Provokateure instruieren Ausschreitungen zu begehen, um repressive Maßnahmen zu rechtfertigen. Dies unterblieb. Es wurde auch kein Blut vergossen, anders als vor wenigen Jahren bei den Demonstrationen gegen den georgischen Präsidenten Saakaschwili, der die Proteste brutal niederschlagen ließ. Die zurückhaltende Reaktion der Führung überzeugte viele Schwankende, ihr (wieder) Vertrauen entgegenzubringen.

2.Populistische Töne waren auch nicht Putins Erfolgsgeheimnis.

Es gab durchaus Anzeichen für populistische Aspekte in Putins Wahlkampf, die über das Maß des in Russland (oder vieler anderer Transformationsländer) üblichen hinausgingen. Dies trifft insbesondere für die letzte Woche vor der Wahl zu. Putins teilweise demagogischen Äußerungen waren aber nicht wahlentscheidend, denn seine Zustimmungswerte stiegen bereits seit Mitte Januar an.

3. Ab Mitte Januar meldeten sich die Anhänger Putins verstärkt zu Wort

Teils lag dies an der Opposition: Je mehr Putin in sozialen Netzwerken verspottet wurde, desto erzürnter wurden seine Anhänger. Druck erzeugte Gegendruck. Zudem mobilisierte die Führung die eigenen Anhänger, die ihre einige Wochen anhaltende Schreckstarre überwunden hatten. Die seit Ende Januar organisierten Pro-Putin-Demonstrationen waren wichtig, um die Moral des eigenen Lagers zu erhalten bzw. wiederherzustellen, trotz aller berechtigten Fragen hinsichtlich des Ausmaßes der Eigeninitiative der Teilnehmer. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es deutliche Indizien gegeben, dass sich Scharen von Opportunisten oder Schwankenden vom Kreml abwenden könnten. Danach hatten sie größeren Anlass, sich als Teil der gewöhnlich „schweigenden Mehrheit“ zu betrachten.

4. Die Anti-Orange-Demonstrationen machten zudem deutlich, dass Putin auch aus Sicht von Unzufriedenen fast als „Mann der Mitte“ betrachtet werden könne.

Alexander Prochanow, Schriftsteller und Herausgeber der nationalistischen Zeitung Zawtra, war einer der Hauptredner auf der Pro-Putin-Demo vom 4. Februar.

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Er hatte Putin und dessen Kompromissen bislang sehr kritisch gegenübergestanden. Kein Wunder, denn Putin hatte nationalistischen Ideologen bislang nur ein Dasein am Rande der Macht gegönnt. Die emotionsgeladenen und geradezu von Hass auf die liberalen, „orangenen“ Gegner erfüllten Reden führten Anhängern der Opposition vor Augen, dass es durchaus schlechtere Alternativen als Putin geben könne. Putin stand den Falken durchaus nah, war aber nicht als Teil von ihnen zu betrachten. Er musste, trotz aller Machtfülle, Rücksicht auf die verschiedenen Flügel und Interessen der Führungsschicht und der Bevölkerung nehmen.

5. Die Mehrheit der Menschen war und ist mit den Verhältnissen in Russland unzufrieden, wie z.B. die Umfrage eines eher kremlnahen Meinungsforschungsinstituts belegt.

Quelle: Umfragen des WZIOM vom 24.–25. Dezember 2011; http://wciom.ru/index.php?id=459&uid=112314, in: Russlandanalysen 232, S. 23

Die Anziehungskraft der Opposition blieb gleichwohl begrenzt.

Die Oppositionsbewegung setzte sich sowohl aus radikalen Rechten, Liberalen als auch Kommunisten zusammen. Jeder ihrer einzelnen Teile wurde von der großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Das beeinträchtigte ihre Anziehungskraft zusehens, zumal die Spannungen innerhalb der Opposition wuchsen.

6. Die Attraktivität der Opposition wurde durch Vorbehalte zwischen der „Intelligenzia“ und der Masse der Bevölkerung beeinträchtigt.

Innerhalb der Protestbewegung gab es Viele, die den Anhängern Putins rundweg vorwarfen, schlecht informiert oder obrigkeitshörig zu sein. Es mangelte an der Bereitschaft, sich in die Motivlage der Anhänger der Stabilität hineinzuversetzen, um wirkungsvoller vorgehen zu können. Auf der anderen Seite verstand es Putin, sich die in der Masse der Bevölkerung verbreiteten Vorbehalte gegen die „Moskauer Schickeria“ zunutze zu machen.

7. Die Radikalität führender Vertreter der Opposition schreckte Schwankende ab.

Ein Beispiel hierfür ist die deutliche Anspielung Nawalnys von der Demonstration am 4. Februar, dass die Opposition eines Tages den Kreml stürmen konnte. Sergei Lukjanenko, der erfolgreichste russische Science-fiction und Fantasyautor der Gegenwart, entschloss sich zur Wahl Putins wegen der seines Erachtens antidemokratischen Rhetorik der Liberalen.

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8. Putin betrieb einen erstaunlich aktiven Wahlkampf. Er näherte sich der von der Opposition geäußerten Analyse der Situation in Russland weit an und übernahm Teile ihrer Forderungen.

Putin machte in den Wintermonaten häufig den Eindruck eines Oppositionspolitikers. Er übte nicht selten harte Kritik, versprach substanzielle Verbesserungen und unterbreitete einige konkrete Vorschläge. Dieser Spagat – sowohl Garant der Stabilität zu sein als auch der Veränderung – ist Putin in den Augen der Mehrheit der Bevölkerung gelungen.

 

Ich habe bereits vor Wochen dargelegt, dass es eine besonders stichhaltige Begründung für die seit zwölf Jahren anhaltende hohe Popularität Putins gibt: Moderate Linke, moderate Rechte, Nationalisten, Sozialdemokraten, Populisten, moderat Abwägende, Eurasier, europäisch Ausgerichtete: Putin vermochte es, Wählern aus allen genannten Lagern das Gefühl zu vermitteln, ihre Interessen zu vertreten. Er zog auch Künstler, wie beispielsweise Anna Netrebko, auf seine Seite, durchaus nicht alle standen auf Seiten seiner Gegner.

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Aber hatte er dem Land nicht bereits seit zwölf Jahren vorgestanden? Auf die Frage, warum er viele Probleme erst jetzt wirklich angehen wolle – oder zumindest seine Absicht hierzu bekundete – nannte er zwei Gründe.

Zum einen erwähnte er das Erbe der 90er Jahre, das eine Stärkung der Machtvertikale erforderlich gemacht habe. Russland habe vor zwölf Jahren vor dem Zerfall gestanden. Er sprach im Wahlkampf auch wiederholt von vermeintlich aktuell drohenden Gefahren, vor denen er die Menschen schützen werde. Dies war seine Botschaft an den konservativen Teil des Elektorats, der Instabilität fürchtet.

Auf der anderen Seite sprach er wiederholt davon, nunmehr sei die Zeit reif für Reformen, die nunmehr auch von der Bevölkerung gefordert würden. Hiermit gewann er Millionen Wähler, die Putin als Garant von Reformen ansahen.

Putin konnte selbst während des Höhepunkts der Proteste auf die Unterstützung einer knappen Mehrheit der Bevölkerung bauen.

 

Quelle: Umfragen des Lewada-Zentrums vom 16. – 20. Dezember 2011, http://www.levada.ru/print/12-01-2012/prezidentskie-vybory-v-marte-chego-ozhidayut-rossiyane, in: Russlandanalysen 232, S. 21

Diese Gruppe wuchs aufgrund der oben aufgeführten Faktoren im Wahlkampf weiter deutlich an. Gleichwohl: Begeisterte Anhänger sind rar. Er gilt bestenfalls als der Einäugige unter den Blinden, die sich zur Wahl stellen durften.

 

Quelle: Umfragen des Lewada-Zentrums vom 17.–20. Februar 2012, http://www.levada.ru/print/24-02-2012/vybory-prezidenta-dopolnenie-k-prezentatsii-chast-1-mitingi-protesta-i-v-podderzhku-vputi, in: Russlandanalysen 235, S. 21

Morgen oder übermorgen folgt ein weiterer Beitrag mit einem Ausblick in die Zukunft.

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