Rezension: Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen

Man höre und staune: Sigmar Gabriel, Oskar Lafontaine, Peter Gauweiler oder etwa Wolfgang Kubicki als Autoren gemeinsam in einem Sammelband! Adelheid Bahr hat mit ihrem Sammelband das Kunststück zustande gebracht, Menschen mit durchaus sehr unterschiedlichen politischen Ansichten an einem Strang ziehen zu lassen. – Vielleicht weil sich die Beteiligten an Egons Bahrs Maxime hielten? Bekanntlich klammerte Bahr strittige Fragen aus, um bei der Verwirklichung gemeinsamer Interessen voranzukommen, nicht zuletzt der Sicherung des Friedens.

Dieses gemeinsame Interesse der 27 Autorinnen und Autoren aus Politik, Wissenschaft, Diplomatie oder etwa Publizistik – an Frieden und Freundschaft mit Russland – ist unverkennbar. Es äußert sich bei einigen sachlich und abwägend, bei anderen mit emotionaler Wucht.

Am Beginn des Sammelbands stehen zwei Reden Egon Bahrs aus dem Jahr 2015, seinem Todesjahr. Bahr sprach u.a. unmissverständlich von einer „russischen Annexion der Krim“. Sie sei eine Verletzung internationaler Verträge, die nicht anerkannt werden könne. Aber es ließe sich eine Lösung aus dem Dilemma finden, so Bahr, ähnlich wie dies zur Zeit des Kalten Krieges gelungen sei: So habe die Bundesregierung unter Willy Brandt der DDR die völkerrechtliche Anerkennung verweigert, de facto wurde sie von der Bundesrepublik aber als Staat respektiert. Diese Unterscheidung zwischen de facto und de jure sei der völkerrechtliche Rahmen der gesamten Entspannungspolitik gewesen. Ebenso, mahnt und rät Bahr, könne man in Bezug auf die Krim verfahren: Die Halbinsel nicht de jure, aber de facto als Teil Russlands behandeln.

Dies ist nach Ansicht des Rezensenten ein Lösungsansatz, den es weiter zu verfolgen gilt. Eine zumindest vorläufige Lösung der Krimfrage wäre nicht zuletzt im Interesse der Bewohner der Halbinsel: So werden von den russischen Behörden auf der Krim ausgestellte Pässe im Westen nicht anerkannt. Faktisch gibt es vom Westen verhängte Reiseverbote für die Bewohner der Halbinsel. Auf der anderen Seite wird westlichen Bürgern der Besuch der Krim stark erschwert oder er wird gar sanktioniert.

Neben der Sicherung des Friedens stand der Wunsch nach menschlichen Erleichterungen im Zentrum der Entspannungspolitik. Ist es legitim und zielführend, die Bewegungsfreiheit der Krimbewohner und in gewissem Maße auch westlicher Bürger einzuschränken, weil der Westen und Russland in der völkerrechtlichen Frage der Zugehörigkeit der Halbinsel eine unterschiedliche Position vertreten?

Bahr fährt mit einer wichtigen Bemerkung fort: Die vorläufige Lösung, in der Krimfrage zwischen de jure und de facto zu unterscheiden, könnte vor einer endgültigen Lösung vielleicht Jahrzehnte andauern, sie könne aber bereits jetzt Möglichkeiten der Kooperation und Entspannung eröffnen. (21)

Bahr tritt durchaus dafür ein, menschenrechtliche Fragen in Gesprächen mit ausländischen Politikern zu thematisieren, wenn es im entsprechenden Land gravierende Probleme gebe. Dies solle aber vertraulich erfolgen, damit die andere Seite ihr Gesicht in der Öffentlichkeit wahren könne. Dies erhöhe die Erfolgsaussichten. Er argwöhnt, manchen westlichen Politikern, die Menschenrechtsfragen offen ansprechen, gehe es weniger um die Verfolgten, als darum, innenpolitisch Punkte zu sammeln. (17) Es gelte anzuerkennen, dass jeder Staat über seine innere Ordnung selbst zu entscheiden habe. (22)

– Aber kommt dies nicht einem Freibrief für Autokraten gleich? So würden Vertreter einer „wertegeleiteten Außenpolitik“ argumentieren.

Sigmar Gabriel geht in seinem Beitrag indirekt aber unmissverständlich auf den genannten Einwand ein. Die Struktur der derzeitigen Beziehungen mit Moskau ähnelten laut Gabriel denjenigen aus der Zeit des Kalten Kriegs: Es sei „nämlich sehr wahrscheinlich, dass sich Russland ähnlich wie die damalige Sowjetunion nicht durch Druck und Konfrontation zu einer Änderung seiner Innen- und Außenpolitik wird bewegen lassen“. (93) Gabriel fordert indirekt, aber unmissverständlich eine Abkehr von der Sanktionspolitik. Er plädiert im Geiste Egon Bahrs für einen Wandel durch eine erneute Annäherung zwischen Deutschland/dem Westen und Russland. (94)

Gabriel tritt für eine neue Entspannungspolitik ein: Für ein Vorgehen, das Erfolg verspricht, im Interesse des Friedens und der Menschen in Ost und West.

Bahr war der Ansicht, dass die Überzeugung einer Wertegemeinschaft mit Amerika sich bereits vor Jahrzehnten als „Irrglaube“ herausgestellt habe. (14) Das ist starker Tobak für die Verfechter einer „wertegeleiteten Außenpolitik“. Sie betrachten „gemeinsame Werte“ als unverzichtbare und tragfähige Grundlage der außenpolitischen Zusammenarbeit. Wer außerhalb der Wertegemeinschaft stehe sei erstens unzuverlässig und zweitens neige er dazu außenpolitische Ziele zu verfolgen, die den eigenen Werten entgegenstehen. Egon Bahr würde vielleicht entgegnen, dass die Jahrzehnte der Entspannungspolitik diesen apodiktischen Aussagen widersprechen. Und er würde womöglich Worte Willy Brandts anfügen: „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ Und die Autorinnen und Autoren dieses Buchs eint die Ansicht, der Frieden sei gefährdet.

Oskar Lafontaine argumentiert, Frieden und Zusammenarbeit mit Russland seien in europäischem Interesse. (121-25)

Warum sind die westlich-russischen Beziehungen derart angespannt? Wer ist hierfür verantwortlich zu machen? Das Buch bietet hierzu vielerlei facettenreiche Antworten. Florian Rötzer etwa weist auf Walentin Falin hin, Berater Michail Gorbatschows. Falin habe bereits im April 1991 gewarnt: Die USA wollten Moskau isolieren. (154) Wer Hinweise für den russischen Anteil an den zerrütteten Beziehungen sucht wird vom Sammelband enttäuscht sein und ihn vielleicht verärgert zur Seite legen. Aber diese lassen sich problemlos in anderen Veröffentlichungen finden.

Die USA sind im Buch annähernd so präsent wie Russland. Wolfgang Kubicki kritisiert, deutsche Interessen würden häufig eins zu eins gesetzt mit den Interessen der NATO oder etwa der USA. (114)

Und Bahr forderte bereits vor dem Amtsantritt des jetzigen US-Präsidenten eine Emanzipierung von den USA. Die Selbstbestimmung solle aber neben und nicht gegen Amerika gerichtet sein. (16) Europa, aber auch Deutschland müsse vom Objekt zum Subjekt werden. Bahr zitiert Willy Brandt mit den Worten: „Kein Volk kann auf die Dauer leben, ohne sein inneres Gleichgewicht zu verlieren, wenn es nicht ‚Ja‘ sagen kann zum Vaterland.“ (18) Bahr sah offensichtlich Anlass für diese Mahnung.

Viele Autorinnen und Autoren betonen, wie wichtig es sei, sich auch in die Position des anderen zu versetzen. Andere, etwa Peter Brandt oder Matthias Platzeck konkretisieren dies, indem sie auf die „Charta von Paris“ aus dem Jahre 1990 hinweisen. Darin erklärten die Staaten von Vancouver bis Wladiwostok: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist unteilbar mit der aller anderen verbunden.“ Warum dann hat der Westen, übrigens gegen die Bedenken Deutschlands, 2014 den Austausch mit Moskau im NATO-Russland-Rat weitgehend eingestellt? Sollte, ja muss man nicht miteinander in Kontakt treten, gerade wenn es Interessen- und Meinungsunterschiede gibt?

Frank Elbe spitzt es folgendermaßen zu: „Eine Politik, die nicht auf Zusammenarbeit mit Russland, sondern auf Ausgrenzung abstellt (…) wäre verfassungsfeindlich. Das Grundgesetz hat in Artikel 26 eine Verpflichtung verankert, das friedliche Zusammenleben der Völker zu fördern.“ (83) Elbe war lange Jahre Bürochef Hans-Dietrich Genschers und Chef des Planungsstabs des Auswärtigen Amts.

Antje Vollmer schreibt über die Maximen der Arbeit und die Persönlichkeit Bahrs. Das Buch schließt mit Detlef Prinz‘ traurigem „Protokoll – das trotzdem Mut machen soll!“

Adelheid Bahr (Hg.), Warum wir Frieden mit Russland brauchen. Ein Aufruf an alle von Matthias Platzeck, Peter Gauweiler, Antje Vollmer, Peter Brandt, Oskar Lafontaine, Daniela Dahn und vielen anderen, Westend Verlag GmbH Frankfurt am Main, 208 Seiten

Diese Rezension erschien zuerst bei: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 7/8 2019