Der Anti-Establishment-Präsident Selenskyi greift an. Der Ausgang des spektakulären Ringens ist ungewiss.
Der neue Präsident wurde zunächst mit formal legalen, aber nicht legitimen Mitteln ausgebremst: Die Zentrale Wahlkommission schob die Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses der Wahl unbotmäßig in die Länge. Danach wurde die Amtseinführung Selenskyis verzögert. Und am 17. Mai schließlich verließ mit der Partei „Volksfront“ eine der zentralen Stütze die immer noch amtsführende Regierungskoalition, die somit keine Mehrheit mehr besitzt. Die genannten Winkelzüge sollten verhindern, dass Selenskyi vorgezogene Parlamentswahlen anberaumen kann. Der reguläre Urnengang ist für Ende Oktober geplant.
Die Bedeutung des ukrainischen Parlaments
Der Handlungsspielraum eines ukrainischen Staatsoberhaupts ist beschränkt. Selbst für die Posten, die Selenskyj vorschlagen darf, etwa den Außenminister oder den Generalstaatsanwalt, benötigt er die Zustimmung der Volksvertretung. Der neue Präsident besitzt hier jedoch bislang fast keine Unterstützung.
Somit löste Selenskyi, sobald er am 20. Mai schließlich doch sein Amt antreten konnte, das Parlament auf: Es repräsentiere nicht mehr den Volkswillen. Zu dieser Maßnahme war er nach der Verfassung womöglich nicht befugt. Das neue Staatsoberhaupt argumentierte, es habe gar keine Regierungskoalition gegeben, da es weder Koalitionsvereinbarung, noch eine Liste ihrer Unterstützer gebe.
Der rechtsradikale Parlamentsvorsitzende Andriy Parubiy entgegnete, selbst wenn es kein solches Bündnis gegeben habe liege es nicht in der Kompetenz des Staatsoberhaupts, dies rechtsverbindlich festzustellen. Abgeordnete riefen das Verfassungsgericht für eine Klärung an. Diese steht noch aus.
Daneben weigerte sich am 6. Juni die Zentrale Wahlkommission den Registrierungsantrag von Selenskyis Partei „Diener des Volkes“ anzunehmen. Er weise formale Mängel auf. Die „Diener“ könnten aber nur dann bei Wahlen antreten, wenn sie registriert werden. Wobei zudem noch nicht geklärt ist, ob die Parlamentswahlen überhaupt vorgezogen werden.
Selenskyis Partei sucht währenddessen online nach Kandidaten für die Parlamentswahl. Geeignete Prätendenten sollen mittels professioneller Personalagenturen gefunden werden. Könnten die genannten Verfahren nicht Missbrauch und Vetternwirtschaft Tür und Tor öffnen?
Selenskyi will das Establishment in die Defensive zwingen: Er fordert von der Volksvertretung Reformen des Wahlrechts, die umgehende Verabschiedung wirksamer Anti-Korruptionsgesetze, die den Kauf von Mandaten erschweren sowie die Entlassung zwielichtigen Spitzenpersonals, z.B. des Generalstaatsanwalts. Die Parlamentarier sind zu keiner dieser Maßnahmen bereit, was der neue Präsident erwartet haben dürfte. Die Obstruktion der Volksvertretung bietet ihm Munition im anstehenden Wahlkampf. Aber was, wenn die „Diener des Volkes“ gar nicht antreten dürfen?
Die Wahlaussichten
Die Demoskopen geben den „Dienern“ gute Werte. Mitte April wurden ihnen rund 30% vorhergesagt, Mitte Mai fast 40% und bei der am 6. Juni bekannt gewordenen Befragung gar 48%.
Die Ergebnisse für den recht russlandfreundlichen „Oppositionsblock“ bewegen sich bei rund elf Prozent, die für Poroschenkos Partei, die sich kürzlich in „Europäische Solidarität“ umbenannte, um zehn Prozent, mit etwas abnehmender Tendenz, ebenso wie für Julija Timoschenkos Partei. Auch die erst vor wenigen Wochen gegründete Partei von Swjatoslaw Wakartschuk, des größten Popstars der Ukraine, dürfte die Fünfprozenthürde überspringen – falls sie denn registriert wird. Sie teilt den Anti-Establishment-Kurs der „Diener“, gibt sich aber stärker ukrainisch-national.
Die Partei des bisherigen Ministerpräsidenten Wolodymyr Hroysman wird mit einem Prozent gehandelt. Auch diejenige seines Vorgängers Arsenij Jatsenjuk wird scheitern. Jatsenjuk wurde während und nach dem „Maidan“ von den USA protegiert. Er hat der Ukraine bereits den Rücken gekehrt, seine Frau und seine Kinder besitzen schon die US-Staatsbürgerschaft.
Der Partei „Diener des Volkes“ steht Olexander Razumkov vor, der Gründer und Leiter einer angesehenen ukrainischen Denkfabrik. Die „Diener“ erklären, eine absolute Mehrheit im Parlament anzustreben, und diese ist denkbar: Aber wie wird es um die moralische Integrität und Kompetenz ihrer künftigen Abgeordneten bestellt sein?
Leiter der Präsidialadministration wurde Andrij Bohdan. Der Jurist ist kompetent und besitzt eine umfangreiche politische Erfahrung. Aber ist Bohdan auch integer? Er ist Hauptanwalt des Kolomojskyis.
Der Oligarch gab der „Financial Times“ am 25. Mai ein viel beachtetes Interview: Er riet der Führung dazu, die Zahlungsunfähigkeit der Ukraine zu erklären. Diese benötige zwar westliche Gelder, habe aber nichts zu befürchten: „Wie oft war Argentinien zahlungsunfähig? … Was solls, sie haben umstrukturiert. Alles ist gut.“
Darüber hinaus solle der Westen seine ausgereichten Darlehen an die Ukraine ganz abschreiben: „Die Ukraine kümmert euch nicht. Ihr wollt Russland schaden, die Ukraine ist hierfür nur eine Ausflucht.“ (https://www.ft.com/content/91df13ce-7d58-11e9-81d2-f785092ab560)
Was bezweckt der gewiefte Oligarch mit seinen Äußerungen? Er stürzt Selenskyi erheblich in Verlegenheit, denn die Ukraine muss in diesem und den folgenden Jahren p.a. mit zwischen 12 und 15 Mrd. US-Dollar beispiellos hohe Summen an die Gläubiger überweisen. Kiew ist also auf neue Mittel und ein Image als zuverlässiger Kreditnehmer angewiesen.
Kolomoyskyi will vermutlich die Chancen einer von ihm protegierten, neu gegründeten „russlandfreundlichen“ Partei steigern, die dem tatsächlich pro-russischen „Oppositionsblock“ Stimmen abringen soll. Und er will die Aussichten der bekanntermaßen IWF-kritischen Julija Timoschenko verbessern, die er ebenfalls unterstützt. Timoschenko will erneut Kabinettschefin werden.
Selenskyis Spagat
Der Politneuling gewann die Wahl als Anti-Establishment-Vertreter. Selenskyi verweigerte in zentralen Fragen eindeutige Stellungnahmen, so konnten Wähler in ihn hineinprojizieren, was sie sehen wollten. Oder er sandte sich widersprechende Botschaften aus. So wechselte Selenskyi während seiner Ansprache zur Amtsübernahme ins Russische. Auf der anderen Seite bezeichnete er den Hyper-Nationalisten Stepan Bandera als „unbestreitbaren Helden“. Beides weckt bei Millionen Ukrainer Abscheu, in den unterschiedlichen Lagern. Selenskyi ließ Anfang Juni zwar eine umfassende Liberalisierung des Elektrizitätsmarktes verschieben, die am 1. Juli in Kraft treten sollte. Aber er wird in dieser und anderen Fragen Position beziehen müssen, sodass sich bisherige Anhänger abwenden werden.
Sekretär des Sicherheits- und Verteidigungsrates wurde Ex-Finanzministers Oleksandr Danyljuk. Neben den erwähnten wenigen erfahrenen Kämpen sind viele der – wenigen – Posten, die der neue Präsident vergeben kann an Personen ohne politische Erfahrung gegangen, an Menschen, denen Selenskyi vertraut.
Der Politneuling hat bislang (?) keine Struktur oder hinreichend fachkundige Unterstützung hinter sich, um die Herrschaft der Seilschaften brechen zu können.
Selenskyi stützt sich neben dem erwähnten Bohdan auf eine weitere umstrittene bis zwielichtige Persönlichkeit: Der ehemalige georgische Präsident Michail Saakaschwili konnte Ende Mai auf Einladung Selenskyis in die Ukraine zurückkehren. Saakaschwili war im Februar 2018 auf Anordnung Poroschenkos des Landes verwiesen worden. Selenskyi kann erwarten, dass der energische Georgier seinem Amtsvorgänger und Widersacher Poroschenko zahlreiche Probleme bereiten wird. Die Allianz Selenskyi-Saakaschwili wird vermutlich aber nur einige Monate halten. Letzterer ist allzu unberechenbar und ehrgeizig. Derzeit allerdings profitieren beide davon.
Sehen wir einmal von den oben geschilderten Entwicklungen ab: Kann der Wechsel der Präsidentschaft von Poroschenko zu Selenskyi nicht als Indiz für die Stärke der ukrainischen Demokratie gewertet werden? Das scheint zweifelhaft. Der bereits seit 1991 rege politische Machtkampf dürfte eher Ausdruck der Konkurrenz zwischen verschiedenen oligarchischen Lagern sein, ähnlich wie in der Republik Moldau. In beiden Ländern wechselten sich die Führungen seit 1991 wiederholt ab, oft mit dem Etikett „pro-westlich“ oder „pro-russisch“ versehen, die oligarchischen Strukturen aber blieben unverändert bestehen.
Zudem weist neben der Demokratie auch die Rechtsstaatlichkeit beträchtliche Schönheitsfehler auf: Der Herausgeber von „strana.ua“, der wichtigsten oppositionellen Onlinemediums der Ukraine, Ihor Huzhva, musste Anfang 2018 Asyl in Österreich beantragen. Oder kürzlich erklärte die UN-Menschenrechtsmission in der Ukraine, die Behörden ließen echtes Interesse vermissen, den schrecklichen Umstände von Odessa aufzuklären. Dort waren am 2. Mai 2014 48 pro-russische Demonstranten bei einem Brand ums Leben gekommen (https://reliefweb.int/report/ukraine/united-nations-human-rights-monitoring-mission-ukraine-briefing-note-accountability-0).
Das Establishment ist derzeit gleichwohl genötigt, auch in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit Zugeständnisse machen. So wurde die prominente Parlamentsabgeordnete Nadia Savchenko aus einer zwölfmonatigen Haft entlassen. Generalstaatsanwalt Lutsenko hatte ihr einen versuchten Staatstreich vorgeworfen. Ihr Plan hätte vorgesehen, das Parlamentsgebäude mit Mörsergranaten zerstören und die überlebenden Volksvertreter mit Sturmgewehren töten zu lassen. Diese Vorwürfe sind absurd. Savchenko ist inhaftiert worden, weil sie mit Vertretern der Donbas-Rebellen gesprochen hat. – Wozu sich übrigens die Führung der Ukranie in den Minsker Vereinbarungen selbst verpflichtete, bislang aber ablehnte.
Die Chance Selenskyis, seinem Land einen wirklichen Durchbruch hin zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu ermöglichen, sind gering. Oligarchen werden, wie in der Vergangenheit, gewaltbereite Nationalisten instrumentalisieren. Und umgekehrt. Die Agenda des neuen Staatsoberhaupts lehnen beide ab.
Eine Lösung der Donbas-Frage könnte aber sowohl die Oligarchen als auch die Hyper-Nationalisten entscheidend schwächen. Es gibt Anzeichen, dass der junge Präsident genau dies anstrebt. Und entgegen dem Anschein gibt es hierfür recht gute Chancen. In Kürze mehr.