Eine rechtliche Änderung hat auch in deutschen Medien hohe Wellen geschlagen, kaum zu Recht. Gleichwohl ist häusliche Gewalt ein erhebliches Problem in Russland.
Polizei und Justiz waren seit einer Gesetzesänderung im Sommer 2016 im Falle von interfamiliärer Gewalt verpflichtet aktiv zu werden, auch wenn keine ernsthaften physischen Verletzungen aufgetreten waren. Handgreifliche Konfliktaustragung in der Familie mussten somit strenger verfolgt werden als außerhalb. Falls ein Fremder etwa ein Kind „ohrfeigte“ musste dies weniger streng geahndet werden als eine entsprechende Züchtigung durch den Vater oder die Mutter. Staatliche Organe waren in diesem Fall seit Sommer 2016 genötigt gegen den Elternteil aktiv zu werden, auch wenn keine ernsthaften physischen Verletzungen aufgetreten waren. Dies entspricht dem Standard in nahezu allen europäischen Ländern.
Nach dieser Gesetzesverschärfung entbrannte eine hitzige öffentliche Debatte in Russland. Die bekanntermaßen sehr konservative Parlamentarierin Jelena Misulina der kremlnahen Partei „Einiges Russland“ brachte noch im Sommer 2016 eine Gesetzesinitiative ein, die ursprüngliche Rechtslage wiederherzustellen. Das Parlament stimmte der Initiative vor kurzem mit überwältigender Mehrheit zu und sie tritt in diesen Tagen in Kraft. Misulina hatte 2012 auch das Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ in die Duma eingebracht.
Schläge in der Familie gelten nunmehr seit dieser Gesetzesänderung wieder als Ordnungswidrigkeit und nicht mehr als Straftat, wenn sie erstmalig auftreten und das Opfer keine Verletzungen erleidet. Der Wiederholungsfall kann nach wie vor strafrechtliche Folgen bis hin zur Inhaftierung haben.
Ist diese Novellierung ein Anzeichen für eine Offensive der Konservativen? Viele Kritiker innerhalb Russlands vertreten diese Ansicht, durchaus mit guten Gründen. So müssen seit der jüngsten Gesetzesänderung die Geschädigten selbst aktiv werden, um den Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen zu können. Man kann sich leicht vorstellen, dass Scham und die Sorge vor weiterer Gewaltanwendung dies häufig verhindern.
Falls man aber der Ansicht folgt, dass es sich um eine Offensive reaktionärer Kräfte handelt, so hätte die Verschärfung der Regelung im Sommer vergangenen Jahres allerdings als Indiz für eine Offensive der Progressiven gelten müssen. Die beiden Gesetzesänderungen lassen sich folglich nicht einfach in die Kategorien „fortschrittlich“ bzw. „reaktionär“ fassen.
Im Januar 2017 waren nach einer Umfrage des eher kremlnahen Meinungsforschungsinstituts FOM 85% der Bevölkerung der Ansicht, dass körperliche Gewalt innerhalb der Familie bestraft werden sollte, nur 6% lehnten dies ab (http://wciom.ru/index.php?id=236&uid=116035). Zudem waren nach einer anderen Umfrage 77% der Befragten der Ansicht, viele Fälle physischer Gewaltanwendung innerhalb der Familie würden nicht verfolgt. Und diese sind ein verbreitetes Phänomen.
Gleichwohl befürwortet eine recht deutliche Mehrheit der Bevölkerung die Novellierung des Gesetzes.
Warum? Eine große Gruppe der Befragten erklärt, dass sich durch die Gesetzesänderung nichts ändern wird, 41% erwarten jedoch eine Abnahme der Gewalt, nur 13% eine Zunahme.
Wie kann man das erklären? Viele, auch Bürgerrechtler, glauben, dass sich nun mehr misshandelte Ehepartner an staatliche Organe wenden werden als zuvor. Sie müssten nunmehr nicht mehr eine Inhaftierung des Schuldigen erwarten, die die Ehe zerstören könnte, sondern bspw. dessen Verurteilung zu gemeinnütziger Arbeit. Die Gesetzesänderung sei somit aussichtsreicher als die frühere Regelung.
Ob diese Überlegung zutrifft? Wie dem auch sei: Die Gewalt innerhalb der Familie wurde in den vergangenen Monaten erstmals breit thematisiert. Das ist ein gutes Zeichen.
Quellenangaben:
Folie 1
Umfragen des FOM vom 15.–16. Oktober 2016, <http://fom.ru/Rabota-i-dom/13124>, 2. Dezember 2016, in: Russland-Analysen 329, S. 17
Folie 2
Umfragen des WZIOM vom 13.–15. Januar 2017, <http://wciom.ru/index.php?id=236&uid=116035>, 23. Januar 2017, in: Russland-Analysen 329, S. 18
Folie 3
Umfragen des WZIOM vom 13.–15. Januar 2017, <http://wciom.ru/index.php?id=236&uid=116035>, 23. Januar 2017, in: Russland-Analysen 329, S. 19