Ziele und Perspektiven russischer Außenpolitik

Beobachter kommen zu sehr unterschiedlichen, ja einander ausschließenden Deutungen der außenpolitischen Ziele Russlands.

Strebt Russland eine Dominanz im postsowjetischen Raum an?

1993 erklärte der Kreml, die Region so weit wie irgend möglich reintegrieren zu wollen, die Errichtung von 30 Militärstützpunkten im benachbarten Ausland wurde angekündigt. Einige Beobachter mutmaßten, Moskau wolle sich mit Satelliten umgeben. Diese Deutung hat immer wieder Konjunktur. Diejenigen, die vor einem Neo-Imperialismus warnen, finden zahlreiche Belege für ihre Ansicht. Allerdings vor allem in Worten und kaum in den Taten. Russland weiß um die Lasten eines Imperiums. Darum löste es 1993 einseitig den Währungsverbund mit zehn anderen postsowjetischen Staaten auf und lehnte etwa eine Zollunion ab, den sämtliche anderen Nachfolgestaaten wünschten.

Ab etwa 2003 bemühte sich Moskau durchaus substanziell um die postsowjetischen Nachbarn. Dabei handelte es sich aber letztlich um defensive Akte, denn die NATO und die EU waren durch die Erweiterungen weit vorgerückt und verstärkten ihr Engagement im russischen Umfeld. Russland fürchtete eine Isolation und wünschte kein Abdriften der Nachbarn Richtung Westen, wollte sie letztlich aber auch nicht an sich binden.

So war es 2005/06 nicht bereit, von Usbekistan gewünschte Sicherheitsgarantien zu geben. Das zweiseitige Verteidigungsabkommen von 2006 sah auch in Krisenzeiten lediglich Konsultationen vor.

In Kirgisistan wiederholte sich Ähnliches: Im Juni 2010 brach die staatliche Ordnung im Süden des Landes zusammen. Es gab hunderte Tote und hunderttausende Flüchtlinge. Die kirgisische Führung bat Russland, militärisch einzugreifen. Zur Überraschung von Russlandkritikern und zum Bedauern von Menschenrechtlern wollte der Kreml jedoch nicht intervenieren. Eine imperial gesonnene Führung hätte sich die genannten Chancen nicht entgehen lassen.

Die Ursache des Unterschieds zwischen Worten und Taten

Die überwältigende Mehrheit der Russen betrachtete das Ende der UdSSR lange als „Katastrophe“, ebenso wie noch 2004 über die Hälfte der Befragten in Belarus und der Ukraine. Folglich sah sich die russische Führung (und nicht nur diese) veranlasst, Reintegrationsvorhaben zu verkünden, deren Realisierung nie beabsichtigt war.

Die Sowjetnostalgie lässt jedoch nach. So begrüßten im Jahre 2000 lediglich 28 Prozent der Russen die Unabhängigkeit Russlands, also die Auflösung der UdSSR. 2011 waren es 59 Prozent. In einer anderen Umfrage antworteten 2005 57 Prozent der Befragten, Russland solle seine Beziehungen zu den Staaten der ehemaligen UdSSR so gestalten wie zu jedem beliebigen anderen Land der Welt. 2007 vertraten bereits 67 Prozent diese Auffassung.[1] Folglich sieht sich der Kreml immer weniger veranlasst so zu tun, als ob er eine neo-imperiale Strategie verfolgen würde. (Dies erklärt auch die starke Abneigung, die der Führung von Seiten der hartgesottenen Nationalisten entgegenschlägt.) Im Juli 2010 stellte Präsident Dmitri Medwedew erstmals offiziell fest, dass die Beziehungen mit den postsowjetischen Nachbarn keine außenpolitische Priorität mehr besitzen. Wladimir Putin schlug im Oktober 2011 die Bildung einer „Eurasischen Union“ vor, die neben Russland weitere Staaten der Region umfassen soll. Er betonte aber: „Wir sprechen nicht über eine politische Integration, eine Wiedergeburt der Sowjetunion. Daran ist Russland heutzutage nicht interessiert. Wir wollen keine exzessiven Risiken übernehmen oder eine exzessive Verantwortung übernehmen für Länder, die uns aus verschiedenen Gründen gleichwohl nahe bleiben.“[2]

Russland ist im postsowjetischen Raum aber aktiver als vor einigen Jahren: Die EU bzw. der Westen sind geschwächt und mit internem Streit oder etwa der Rettung von Banken befasst. Russland nutzt die Gelegenheit, seine Position zu stärken, ohne eine „exzessive Verantwortung“ übernehmen zu müssen. Andererseits ist es auch genötigt Lücken zu füllen, die der Westen hinterlässt. China ist so weit erstarkt, dass Länder Richtung Peking abzudriften drohen. So hat China Russland als führenden Handelspartner in Zentralasien abgelöst und führt beispielsweise regelmäßige Militärübungen mit den Streitkräften der Länder der Region durch.

Benötigt Russland einen Partner oder gar starken Verbündeten?

Russland ist sich seiner Schwächen durchaus bewusst. So wurde im Frühjahr und Sommer 2008 erstmals offiziell festgestellt, Russland sei keine Großmacht, sondern wolle erst eine werden. Über dieses Ziel, das durch eine Stärkung im Innern erreicht werden soll, herrscht im Land nahezu Einmütigkeit.

Russland hat mehr Nachbarn sowie längere Grenzen als jedes andere Land. Es grenzt mit dem Kaukasus, Zentralasien und Nordkorea an Konfliktregionen. Kann das Land die Herausforderungen allein meistern? Es wird 2020 nur etwa drei Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung erzeugen, während die EU, die USA und China auf je rund 20 Prozent kommen dürften. Vertreter aller politischen Lager fürchten zudem, dass die Stabilität des Landes durch die ethnisch-religiösen Spannungen oder etwa die gravierenden Infrastrukturmängel gefährdet ist. Auch darum war und ist Moskau nur begrenzt zu einer kostspieligen Machtpolitik bereit. Wie kann Russland sicherstellen, zukünftig in schwierigen Zeiten die Aufgaben bewältigen zu können?

Ein enges Einvernehmen mit dem Westen?

Es gibt eine Reihe Indizien dafür, dass Russland einen bündnisähnlichen Zustand mit dem Westen anstrebte. In diese Richtung deuteten z.B. die zahlreichen Initiativen, einen gemeinsamen Raketenabwehrschirm herzustellen. Im Außenpolitischen Konzept vom Juli 2008 wurde als Ziel ein Europa ohne Trennungslinien postuliert. Der Vorschlag, diese zwischen Russland und China zu beseitigen, wurde nie gemacht, er erschiene auch als abwegig.

Oder im Herbst 2011 wiederholte Putin seinen Vorschlag einer Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok, den er 2010 bereits in der „Süddeutschen Zeitung“ gemacht hatte.[3] Er sagte zudem: „Ich kann einfach nicht sehen, wie die Völker, die in diesem Kulturraum [zwischen Lissabon und Wladiwostok] leben, ein respektiertes Zentrum der internationalen Politik und Macht bleiben können, ohne ihre Energien (…) zusammenzuschließen. Entweder bündeln wir unsere Kräfte, oder wir werden nach und nach die internationale Bühne verlassen und Platz für andere machen“.[4]

Widerstreitende Botschaften?

Russland sendet seit über 20 Jahren wiederholt Signale aus, faktisch Teil der euro-atlantischen Welt werden zu wollen. Mitunter verhält es sich wie eine Macht, die „lediglich“ spannungsarme und kooperative Beziehungen sucht. Mitunter agiert der Kreml wie ein Konkurrent. Wie sind die widerstreitenden Signale zu deuten?

Die Reaktion des Westens

Sowohl die NATO als auch die EU unterhalten zu Russland intensivere Kontakte als zu jeder anderen Macht. Substanzielle Fortschritte bleiben gleichwohl rar. Warum?

Russland ist in vielerlei Hinsicht ein sehr bedeutendes Land, aber für den Westen bestand wenig Anlass, auf Annäherungssignale des Kreml zu reagieren. Es dominierte die Ansicht, ein Einvernehmen mit Russland sei nicht erforderlich, weil anstehende Fragen allein bewältigen werden könnten. Es sei auch nicht ratsam, weil Russland nicht relevant zur Lösung von Problemen beitragen könne und eine Abstimmung mit Moskau die ohnedies bereits komplizierten Verständigungsprozesse innerhalb westlicher Organisationen weiter erschweren würde. Der Mehrwert einer engen Zusammenarbeit war für den Westen nicht so offensichtlich, dass er substanzielle Anstrengungen gerechtfertigt hätte – und die Konflikte innerhalb der eigenen Reihen, die damit verbunden wären.

Der Westen bzw. die EU waren letztlich wenig interessiert an einer Kooperation, was in den vergangenen 21 Jahren zu folgendem Muster führte: Russland unterbreitete Vorschläge, deren Umsetzung faktisch zu einer Schicksalsgemeinschaft mit der euro-atlantischen Welt geführt hätten – Der Westen reagierte spröde – Russland neigte, dies als unfreundliche, wenn nicht feindselige Haltung zu deuten und reagierte mit Gegenmaßnahmen – Diese wiederum wurden im Westen als Beleg dafür gewertet, dass Russland als enger Partner nicht in Betracht gezogen werden könne. Einige Jahre darauf wiederholte sich dieser Zyklus, vorzugsweise mit dem Amtsantritt eines neuen Präsidenten im Kreml.

Strukturelle Probleme im westlich-russischen Verhältnis

Es ist keineswegs sicher, dass der Kreml zu irgendeinem Zeitpunkt in den vergangenen 21 Jahren willens war, eine Schicksalsgemeinschaft mit dem Westen herzustellen. Aber die Indizien deuten zumindest unzweifelhaft darauf hin, dass er sich diese Option wiederholt ernsthaft eröffnen wollte. Es gibt jedoch Faktoren, die ihrer Realisierung entgegenstehen:

-Sowohl in Russland als auch im Westen herrscht Unsicherheit, ob die andere Seite als verlässlich betrachtet werden kann. Immerhin lehnt Westeuropa bereits eine Verschränkung der Energiesysteme mit Russland ab. Wie ist in Anbetracht dessen die Herstellung eines gemeinsamen europäischen Raums denkbar? Oder gar eine strategische Sicherheitspartnerschaft in Form einer gemeinsamen Raketenabwehr?

-Ein bündnisähnlicher Zustand ist aus westlicher Sicht nur denkbar, wenn Russland rechtsstaatlich(er) und demokratisch(er) wird. Dies wird vermutlich eine lange Zeit in Anspruch nehmen. Sie könnte durch kooperative Beziehungen zwischen Russland und der euro-atlantischen Welt verkürzt werden. Ein von konfliktbeladenes Verhältnis, bei dem mit Megaphonen agierende Hardliner auf beiden Seiten den Ton angeben, dürfte Vorbehalte gegen westliche Werte verstärken.

-Die Finanzkrisen werden vermutlich einige Jahre dazu führen, dass sich die westlichen Akteure anhaltend überwiegend mit sich selbst beschäftigen.

Ansätze einer Sicherheitspartnerschaft?

Vor gut zwei Jahren sagte der NATO-Generalsekretär voraus, bis zum Jahre 2020 werde ein gemeinsames Raketenabwehrsystem mit Russland geschaffen und die EU nahm ihre jahrelang unterbrochenen Verhandlungen über eine neue Vertragsgrundlage der Beziehungen mit Russland wieder auf. Zudem ist Russland zum mit Abstand wichtigsten Transitland für den Nachschub nach Afghanistan geworden.

Die westlich-russischen Beziehungen haben sich zwischenzeitlich zwar deutlich abgekühlt. Gleichwohl ist seit einigen Jahren eine neue Situation entstanden bzw. bewusst geworden: Die relative Macht des Westens ist dabei beträchtlich zu sinken, in geringerem Maße gilt dies auch für Russland. Der Vergleichsmaßstab ist China. Dies führt tendenziell zu kühleren Köpfen bei den Heißspornen etwa in Washington, Brüssel und Moskau. Nicht sofort, nicht bei allen, aber tendenziell.

Denn unabhängig davon, ob Brüssel Moskau ein Bein stellt oder umgekehrt, Peking profitiert als lachender Dritter. Der grandiose Aufstieg Chinas weckt mit einem Blick auf ähnliche Vorgänge in der Geschichte aber verständliche Sorgen. Die Haltung Pekings im Inselstreit mit zahlreichen Nachbarn nährt diese.

Zudem könnten aus Afghanistan kommende Sicherheitsgefahren in den kommenden Jahren verstärkt nach Zentralasien ausstrahlen. Dies ist Moskau überaus bewusst. Die Länder dieses Raumes könnten ihnen nicht allein begegnen. So beträgt das Bruttoinlandsprodukt Kirgisistans und Tadschikistans zusammengenommen weniger als ein Drittel desjenigen des Saarlands; dasjenige Kasachstans ist etwa halb so hoch wie das Österreichs.[5] Russland ist dabei, sich stärker als Stabilitätsanker zu engagieren, was sehr in westlichem Interesse liegt.

Aussichten

Russland wird zumindest einige Jahre hinaus auf sich allein gestellt bleiben und zwischen Europa/dem Westen und China lavieren. (Dies ist möglicherweise die ohnedies vom Kreml bevorzugte Option.) Dies setzt voraus, sowohl von den USA als auch China umworben zu sein sowie zu beiden bessere Beziehungen zu pflegen als die Großen miteinander unterhalten. Die anwachsende Konkurrenz zwischen den USA und China erhöht die Erfolgsaussichten einer solchen Strategie. Der Einfluss Russlands könnte dergestalt über seine wirtschaftliche oder demographische Stärke hinauswachsen.

In etwa zwei Jahrzehnten wird China ökonomisch vermutlich stärker sein als Europa von Lissabon bis Wladiwostok. Dies entspräche dem lediglich zwei Jahrhunderte unterbrochenen historischen Normalzustand. Spätestens dann stehen die

[1] Fein, Elke: Postimperialistischer Phantomschmerz oder gute Nachbarschaft?, in: Russlandanalysen, Nr. 124 (http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/Russlandanalysen124.pdf)

[2] http://russiaprofile.org/business/47537.html

[3] http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/putin-plaedoyer-fuer-wirtschaftsgemeinschaft-von-lissabon-bis-wladiwostok-1.1027908; http://www.izvestia.ru/news/502761; http://www.themoscowtimes.com/news/article/putin-calls-for-new-eurasian-union-of-former-soviet-countries/444856.html

[4] http://premier.gov.ru/eng/events/news/16653/

[5] Der neue Fischer Weltalmanach 2012, Zahlen, Daten, Fakten, Frankfurt/M., S. 126, 146, 275, 281, 365, 470