Umbruch in Russland? Eine Zwischenbilanz. Folge III

Gegenstand dieser Analyse ist das Ringen zwischen der Führung und der Opposition zwischen Ende Januar und Ende Februar. Am 6. oder 7. März werde ich die letzten Tage vor der Präsidentschaftswahl und deren Ergebnis analysieren, eine abschließende Bewertung der bemerkenswerten Entwicklung der vergangenen Monate vornehmen und die Varianten der künftigen Entwicklung abwägen.

Der bereits Anfang Januar angekündigte Beitrag über die weltpolitischen Auswirkungen der Entwicklung in Russland steht weiterhin aus. Er ist nicht vergessen und wird folgen.

 

Im letzten Blog habe ich Eckpunkte der Entwicklung zwischen Ende Dezember und Ende Januar dargelegt. Man konnte feststellen, dass diejenigen Teile der russischen Führung, die die Dynamik der Öffnung des politischen Systems abbremsen oder beenden wollten, seit Mitte Januar zunehmend aus ihrer rein defensiven Haltung herausfanden. Ich habe argumentiert, hierfür gebe es verschiedene Ursachen. Zwei habe ich bereits genannt:

  1. Putin wird von der Mehrheit der Bevölkerung weiterhin unterstützt.
  2. Die wichtigsten Kräfte der Opposition, die Kommunisten und Liberalen, sind für die Mehrheit der Bevölkerung aus grundsätzlichen Erwägungen nicht wählbar.

Ich setze die systematische Analyse der Entwicklung für die Zeit von Ende Januar bis Ende Februar fort:

 

Ende Dezember/Anfang Januar war die Opposition eindeutig in der Offensive. Auf der anderen Seite waren viele Vertreter der bisherigen politischen Ordnung Russlands hochgradig verunsichert und es gab Anzeichen, dass sie sich politisch neu orientieren könnten, ob aus Opportunismus oder Überzeugung. Ein Regimewechsel war zwar nicht wahrscheinlich, schien aber möglich zu sein. Spätestens Ende Januar war offenkundig, dass es in Russland keine Entwicklung ähnlich wie in der Ukraine Ende 2004 mit der „Orange Revolution“ geben wird. Aber auch sehr wahrscheinlich keine Gewalt.

Die Börsenkurse waren nach den Dumawahlen stark unter Druck geraten, stiegen im Januar aber wieder deutlich an. Seit Mitte Januar wiesen Meinungsumfragen darauf hin, dass sich die Unterstützung für Putin stabilisierte oder gar anstieg. Die parlamentarische Opposition, d.h. insbesondere die Kommunisten und „Gerechtes Russland“, sandte an die außerparlamentarische Protestbewegung auch nach Ende Januar durchaus weiterhin Signale der Solidarität aus. Gennadi Sjuganow, der Kandidat der Kommunisten für die Präsidentschaftswahl, stärkte Jawlinski beispielsweise demonstrativ den Rücken. Und Sergej Mironow, der Präsidentschaftskandidat von „Gerechtes Russland“, stellte sozial-demokratische und weitgehende Forderungen für die Umgestaltung Russlands auf.

Gleichwohl gab es einen unverkennbaren Richtungswechsel: Bis Ende Januar wollten sich Kommunisten und „Gerechtes Russland“ die Option offenhalten, sich an die Spitze der Protestbewegung zu setzen, falls sie sich als stark genug herausstellen sollte. – Obgleich die Umsetzung dieser Option zu keinem Zeitpunkt die von der Führung der Parteien bevorzugte Variante war, anders als bei vielen Mitgliedern oder Führungspersönlichkeiten der zweiten Reihe, wie etwa Gudkow oder Ponomarew. Als Putin stärker wurde, näherte sich die parlamentarische Opposition der Führung des Landes stärker an. Sie behielt ihre Kontakte zur außerparlamentarischen Protestbewegung bei, wie etwa die Kommunistische Partei zur deutlich oppositionellen „Linksfront“, zeigte grundsätzlich aber eine stärkere Distanz. So trat Mironow, anders als von ihm angekündigt, nicht bei der Protestdemonstration am 4. Februar auf.

Die parlamentarische Opposition bekundete in den folgenden Wochen aber zugleich wiederholt ihr Interesse, Putin nicht zu stark werden zu lassen, um ihren neuen Handlungsspielraum zu wahren und ggf. auszuweiten. Sie weigerte sich z.B. in der Duma eine Resolution von „Edinaja“ zu unterstützen, in der die sogenannte „Orange Gefahr“ verurteilt wurde. Dieses Lavieren zwischen der Führung und der Protestbewegung war nachvollziehbar. Es nötigte die Führung zu Zugeständnissen an die parlamentarische Opposition. Am 6.2. wurde „Gerechtes Russland“ offiziell aufgefordert Kandidaten zu benennen, die nach der Regierungsbildung im Frühjahr, die durch die Präsidentschaftswahl erforderlich werden wird, Posten zumindest stellvertretender Minister übernehmen könnten. Die anderen drei in der Duma vertretenen Parteien wurden ähnlich bedacht.

Die Führung des Landes wäre kaum auf die Parlamentsparteien zugegangen, wenn sich an der Protestkundgebungen am 4. Februar nicht so viele Menschen beteiligt hätten, auch in den großen regionalen Zentren im Land, in denen vermutlich sogar mehr Menschen demonstrierten als 1991.

Das Ausmaß, in dem sich die parlamentarische Opposition künftig an der Führung des Landes beteiligen kann, hängt von dem Stärkeverhältnis zwischen der außerparlamentarischen Opposition und der Führung des Landes ab. Falls diese keine Rückendeckung benötigt würde es weniger oder keine Zugeständnisse geben.

Von Putin kamen grundsätzlich weiter deutliche Signale der Bereitschaft, das politische System Russlands zu öffnen. Er musste versuchen, Wähler, die Reformen, aber keine Destabilisierung wollten, auf seine Seite zu ziehen. Am 6. Februar schrieb er in einem programmatischen Artikel: „Wir müssen die Mechanismen unserer Demokratie erneuern.“ Als Grund führte er an, die Gesellschaft sei „gereift“. Es gab zahlreiche ähnliche Stellungnahmen. Putin grenzte sich gegen die Hardliner in den eigenen Reihen deutlich ab. Es gab keinerlei Indizien für ein mögliches zukünftiges gewaltsames Vorgehen gegen die Opposition. Putin machte im Gegenteil erstmals in seiner Karriere echten Wahlkampf. Er warb, auch um die Stammwähler, d.h. den sozial schlechter gestellten bzw. betont patriotischen Teil der Bevölkerung. Dies äußerte sich durch das Versprechen, Garant deutlich steigender Löhne zu sein und wiederholte scharfe Angriffe auf die die außerparlamentarische Opposition, der er vorwarf, letztlich im Auftrag der USA zu handeln.

Die russische Gesellschaft war so politisiert wie seit 20 Jahren nicht. Die vom staatlichen Fernsehen gesendeten Kontroversen zwischen den Präsidentschaftskandidaten wurden von unerwartet vielen Menschen verfolgt. Die TV-Berichterstattung behielt eine deutliche Schlagseite zugunsten Putins, aber seine Kritiker erhielten eine unvergleichlich größere Chance sich zu artikulieren als noch vor wenigen Monaten. Das Fernsehen machte die Zuschauer mit Anti-Putin-Sprechchören oder -Plakaten bekannt. Diese neuen Töne im wichtigsten Medium des Landes begünstigten eine weitere Mobilisierung der Opposition. – Aber auch der Anhänger Putins, die erzürnte, was sie als Verunglimpfung einer Führungspersönlichkeit verstanden, der sie viel zu verdanken glaubten. So gab es am 11. Februar in zahlreichen Provinzstädten Pro-Putin-Demonstrationen mit jeweils einigen Tausend Teilnehmern. Es gab zahlreiche Anzeichen dafür, dass ein erheblicher Prozentsatz der Kundgebungsteilnehmer dazu genötigt wurde an den Versammlungen teilzunehmen, oder durch Gratifikationen dazu gebracht wurde. Gleichwohl kamen Umfragen von Meinungsforschungsinstituten jeglicher Couleur zu dem Ergebnis, dass die Bereitschaft der Wahlberechtigten, Putin zum Präsidenten zu wählen kontinuierlich stieg. Mitte Februar konnte es als annähernd sicher gelten, dass er bereits im ersten Wahlgang über 50% der Stimmen erringen wird.

Gleichwohl schalteten sich immer mehr und zahlreiche Akteure in die politische Diskussion ein, was es seit langen Jahren nicht mehr gegeben hatte. Putin sprach beispielsweise davon, diejenigen, die von der Privatisierung der 90er Jahre profitiert hätten, sollten einen finanziellen Beitrag leisten, damit dieses Kapitel abgeschlossen werden könne. Alexander Schochin, der Vorsitzende der Großindustriellen-Vereinigung RSPP meinte daraufhin, dass der Ministerpräsident wohl über eine symbolische Summe spreche …

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Andrei Kostin, von Putin ernannter Vorstandsvorsitzender der überwiegend in Staatsbesitz befindlichen WTB-Bank und früherer Botschafter in Großbritannien meinte gegenüber der oppositionellen Zeitung „Kommerant“: Das Land habe Putin viel zu verdanken, nunmehr sei er jedoch bereits zu lange an der Macht. Er solle nur eine Amtszeit amtieren.

http://kremlin.ru/news/5689

Mitte Februar gab es Berichte, dass die kremlnahe Partei „Edinaja“ nach den Präsidentschaftswahlen in ihre verschiedenen weltanschaulichen Flügel zerlegt werden könnte, was Sergei Markow, ein einflussreicher Analyst und früherer Abgeordneter von „Edinaja“, bestätigte. Weitere, wohl übertriebene, aber nachvollziehbare Gerüchte gingen dahin, dass einige „Edinaja“-Abgeordnete sich bereits an andere Fraktionen wenden würden, um dort unter Umständen unterschlüpfen zu können. Die Vertreter der Partei waren erkennbar verunsichert, dass Putin alles unternahm, um nicht mit seiner eigenen Schöpfung, der er als Vorsitzender vorstand, in Verbindung gebracht zu werden. So nahm es nicht Wunder, dass sämtliche 125 Kandidaten von „Edinaja“ bei den ebenfalls am 4. März stattfindenden Moskauer Kommunalwahlen als Unabhängige antraten, um nicht durch den schlechten Ruf ihrer Partei kontaminiert zu werden.

Aber auch diejenigen, die in alten Bahnen bleiben wollten, verschafften sich Gehör. Am 7. Februar wurden die Untersuchungen im Fall Sergej Magnitskij beendet, obgleich zahlreiche Indizien darauf hindeuten, dass er inhaftiert worden war und 2009 im Gefängnis gewaltsam zu Tode kam, weil er die Unterschlagung von 230 Millionen US-Dollar durch Mitarbeiter des Innenministeriums und der Steuerbehörden aufgedeckt hatte.

Kurz darauf gab es Anzeichen dafür, dass der Radiosender „Echo Moskwy“, der auch mit seinen zahlreichen Internetseiten eine wichtige Rolle in der Protestbewegung spielte, in eine schwierige Lage geraten könnte. Chefredakteur Alexei Wenediktow sprach von „Elementen politischen Drucks“. Er glaubte hierbei nicht an eine Anordnung Putins, den er seit 1999 kennt. Wenediktow hatte vielmehr bereits Wochen zuvor gesagt, dass Putin bereits mehrfach eingegriffen habe, um eine Schließung des Senders zu verhindern.

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Die Pressesprecher sowohl des Präsidenten als auch des Ministerpräsidenten beeilten sich energisch zu bestreiten, dass ihre Chefs etwas mit dem Druck auf „Echo Moskwy“ zu tun hätten. Wenediktow meinte schließlich, die derzeitige Entwicklung sei für seinen Sender unangenehm, aber keine Katastrophe. Michail Gorbatschow, der frühere Präsident der UdSSR, bezeichnete die Ereignisse als „Schlag ins Gesicht der öffentlichen Meinung“. Er schäme sich für das, was passiert sei.

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Der Chefredakteur der „Komsomolskaja Prawda“, eine der größten Zeitungen Russlands, mutmaßte, die Ereignisse würden nur die Opposition stärken. Dies traf vermutlich zu.

Kurze Zeit darauf zog das russische „MTV“ eine Sendung zurück. Sie wurde vom populären Party-Girl Ksenia Sobchak moderiert, die ihren Weg zur Opposition gefunden hatte.

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Das Format war bislang erst einmal gebracht worden: „Wohin führt uns Putin“ hatte das Thema geheißen. Für die zweite Sendung sollte Andrei Nawalny eingeladen werden … MTV nannte zunächst keine Begründung für die Absetzung des Formats, später wurde erklärt, junge Leute würden sich nicht für Politik interessieren. Die hohen Einschaltquoten sprachen allerdings eine andere Sprache.

Hinzu traten Skandale anderer Natur. So erschien auf „YouTube“ ein Video, das angeblich den führenden Oppositionellen Wladimir Ryschkow während des Sexualakts mit einer Prostituierten zeigte. Die Emailkonten führender Oppositioneller sind wiederholt gehackt und veröffentlicht worden, beispielsweise die privaten Briefe Nawalnys mit seinen Eltern und seiner Frau. Für diese und andere, ähnliche Vorfälle hatte niemand die Verantwortung übernommen. Die Opposition blieb nicht untätig. Die Emailkonten von zwei führenden Vertretern der staatlichen „Föderalen Jugendagentur“ wurden geknackt. Demnach sollen „unabhängige“ Seiten im Internet aufgebaut worden sein, die die Opposition kritisierten und Angriffe auf oppositionelle Seiten finanziert worden sein (DDoS), um sie lahmzulegen. Alles auf Kosten des Steuerzahlers.

Auf der offiziellen politischen Ebene gab es gleichwohl auch Mitte Februar Anzeichen für eine anhaltende Pluralisierung und Öffnung des Systems. So fanden sich sogar der Milliardär und Wirtschaftsliberale Michail Prochorow und Gennadi Sjuganow zusammen, um gemeinsam mit der „Liga der Wähler“ bessere Bedingungen für die Beobachtung der Präsidentschaftswahlen zu schaffen. Sergei Mitrochin, der „Jabloko“-Vorsitzende betonte das Interesse Präsident Medwedews an den Reformvorschlägen seiner Partei, die sogar von „Edinaja“ gelobt wurden.

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Der Wahlkampfmanager Putins wollte von der Moskauer Stadtverwaltung die Genehmigung für eine Demonstrationszug durch die Innenstadt, was diese jedoch ablehnte. – Einige Monate vorher wäre die Zusage kaum verweigert worden. – Schließlich einigte man sich auf eine Kundgebung im größten Stadion der Hauptstadt.

Selbst Nikolai Patruschew, langjähriger FSB-Chef, ausgewiesener Hardliner und jetziger Sekretär des „Sicherheitsrats“ beim Präsidenten lobte die aufkeimende Demonstrationskultur: „Die Zivilgesellschaft, über die wir Jahre gesprochen, aber nie gesehen haben, ist dabei sich zu bilden.“

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„Unglücklicherweise“, fuhr er fort, „sind nicht alle glücklich über den friedlichen Verlauf der Proteste. Denn nun gibt es keinen Grund, die Behörden einer massiven Unterdrückung des Widerstands zu bezichtigen. Diese Art von Anschuldigungen wurden normalerweise als Vorwand genutzt für farbige Revolutionen und massive ausländische Einmischung in die inneren Angelegenheiten beliebiger Länder.“

Am 20.Februar trat Präsident Medwedew mit den führenden Politikern der nicht registrierten Parteien zusammen. Er sprach u.a. davon, nur zwei Amtszeiten pro Lebzeiten des Präsidenten gutzuheißen. Wladimir Putin strebte, wie bekannt, soeben seine dritte Amtszeit an. – Der Präsident lud die Oppositionsführer zur Mitarbeit ein, um Reformvorschläge zu diskutieren. Sergej Udalzow, Vorsitzender der „Linksfront“ begrüßte dies als Möglichkeit, Einfluss ausüben zu können.

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Außer ihm waren u.a. Boris Nemtsow und Ryschkow anwesend. Letzterer meinte, dass Medwedew viele der Ansichten der Protestbewegung teile und ernsthaft Reformen durchsetzen wolle, bevor er sein Amt verlasse. Die staatlichen Fernsehanstalten machten ihre Nachrichten mit dem Treffen auf, zeigten auch die Oppositionsführer im Bild, zitierte sie aber nicht. Die Ansichten Medwedews sind insofern weiterhin von großer Relevanz, weil er eine Strömung innerhalb der Führung verkörpert.

Ministerpräsident Putin setzte am gleichen Tag in einem weiteren programmatischen Artikel andere Akzente, indem er die Bedeutung der Streitkräfte für die Sicherheit und Souveränität des Landes herausstrich. Er kündigte beträchtliche Ausgaben an. Dies war ein alter Hut mit unsicheren Realisierungsaussichten, die Nachricht war bereits ein Jahr alt. Sie machte sich aber bei manchen seiner Wähler gut und fand auch ein breites Echo in den Kommentarspalten westlicher Blätter.

Wichtiger scheint mir eine andere Äußerung Putins: Er schrieb, dass die Streitkräfte im vergangenen Jahr umgerechnet 750 Mio. Euro durch Korruption verloren hätten. Dies wären etwa 2% der Rüstungsausgaben. Präsident Medwedew hingegen teilte im Herbst 2010 mit, dass der Betrug bei staatlichen Ausschreibungen jährlich einen Schaden von umgerechnet etwa 25 Mrd. Euro verursache. Das entspricht deutlich über 10% der Investitionen. Man kann kaum davon ausgehen, dass der Anteil an Veruntreuungen im Verteidigungssektor (deutlich) niedriger als im zivilen liegt. Folglich muss man die Äußerung Putins nicht als Korruptions-Kritik an den Streitkräften verstehen, sondern eher als Wink, dass er das Problem nicht als allzu drängend einstuft.

Am 21. Februar gab Dmitrij Muratow, Chefredakteur der deutlich oppositionellen Zeitung „Nowaja Gaseta“ bekannt, dass deren Finanzierung unterbrochen wurde. Ursache sei die in dieser Form präzedenzlose Überprüfung der „Nationalen Reservebank“ durch die russische Zentralbank. Die „Reservebank“ gehört dem Milliardär Alexander Lebedew. Er ist neben Michail Gorbatschow und der Belegschaft Co-Eigentümer und wichtigster Finanzier der Zeitung.

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Am 23. Februar, dem traditionellen „Tag der Verteidiger des Vaterlands“ fand die Großkundgebung im Luschniki-Stadium in Moskau statt. Putin gab sich kämpferisch und polarisierte, um seine Anhänger zu mobilisieren: „Wir werden niemandem erlauben, sich in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen.“ Die über 100.000 Teilnehmer der Kundgebung kamen zu einem großen Teil nicht aus Moskau, sie entstammten der Arbeiterschicht, waren Militärs oder Staatsangestellte. Es handelte sich kurz gesagt um einen Gegenentwurf zu den Demonstrationen der Opposition. Unvoreingenommene Beobachter meinten, dass viele aus eigenem Antrieb gekommen seien, es habe aber einen hohen Anteil von Teilnehmern gegeben, die bezahlt oder zum Kommen aufgefordert worden waren. Die Uniformität der Plakate und die verbreitete Unwilligkeit von Teilnehmern, mit Reportern zu sprechen, deuteten darauf hin.

Die Opposition demonstrierte wenige Tage darauf mit einem Menschenring um die Moskauer Innenstadt herum. Die Organisatoren sprachen von 40.000 Teilnehmern, die Polizei von 11.000. Es herrschte eine friedliche, festliche und freundliche Stimmung. Die Polizei war sehr zurückhaltend. Bemerkenswerterweise kam es weder bei dieser Gelegenheit noch bei anderen Demonstrationen zu Rangeleien zwischen den Anhängern der verschiedenen politischen Lager. Wäre die Lage in anderen europäischen Ländern in Anbetracht der Polarisierung auch so friedfertig geblieben?

Die drei Oppositionsfraktionen in der Duma blieben ihrer Linie treu, zwischen der Führung und der außerparlamentarischen Opposition zu lavieren. Sie waren nicht mehr so nachgiebig gegenüber dem Kreml wie noch wenige Monate zuvor. So forderten sie Präsident Medwedew auf, vor der anstehenden Verabschiedung der Neuregelung keinen neuen Gouverneur zu berufen. Bei der Fernsehdebatte im Ersten Russischen Fernsehen diskutierte Sjuganow am 27. Februar mit Vertretern Putins. Der wichtigste Herausforderer Putins prangerte an, Russland stehe weltweit am schlechtesten da in Bezug auf den Bevölkerungsrückgang, Selbsttötungen, oder durch Alkohol bzw. Flugzeugabstürze bedingte Todesfälle. Praktisch alles werde importiert. Die Korruption sei allgegenwärtig, aber keiner der bestechlichen oder inkompetenten Spitzenleute werde entlassen.
Am gleichen Tag meldete sich Alexander Werschnjakow zu Wort, derzeitiger Botschafter in Lettland und zuvor langjähriger Leiter der Zentralen Wahlkommission Russlands. Er kritisierte, dass die Verantwortlichen für Wahlfälschungen nicht bestraft würden und zeigte Verständnis für die Demonstrationen.

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Diese Äußerung war zweifellos sehr ungewöhnlich für hochrangigen Diplomaten, der jederzeit vom Präsidenten abberufen werden kann. Und dieser wird aller Voraussicht nach bald Putin heißen. Nach den Angaben von „Golos“ haben russische Gerichte, abgesehen von zwei, sämtliche der 2.000 vorgebrachten Beschwerden, die von Wahlbeobachtern nach den Dumawahlen vorgebracht wurden, als nicht stichhaltig abgeschmettert.
Die Elite des Landes ist offensichtlich gespalten: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die weitergehende Reformen wünschen, auf der anderen diejenigen, die die bisherige Ordnung verteidigen wollen und die Opposition vom Ausland gesteuert wähnen. Und Putin steht dazwischen, mal eher auf der einen, mal eher auf der anderen Seite. Von Mitte Januar bis etwa Mitte Februar betonte er seine Reformwilligkeit. Mit zunehmender Nähe zum Wahltag näherte er sich verbal den Falken an, beispielsweise mit der Behauptung, die Opposition selbst wolle für Unregelmäßigkeiten bei Wahlen sorgen, damit diese illegitim erschienen. Seine Kontrahenten gaben sich ähnlich harsch. So bezeichnete Sjuganow den Bericht über einen Mordversuch an Putin als „billigen Trick“. Wladimir Schirinowski, der schillernd-populistische Präsidentschaftskandidat der „Liberaldemokraten“, die Putin durchweg unterstützt hatten, bezeichnete das Mordkomplott als Erfindung, um „schlecht ausgebildete alte Damen“ in das Lager Putins zu treiben.

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Die Opposition wird am 4. März mehr Beobachter in die 91.000 Wahllokale schicken können als bei den Dumawahlen. In Moskau soll es in jedem der Wahllokale vier oder fünf Beobachter geben. Insgesamt könnten es landesweit über 100.000 geben. Dies erhöht die Chancen auf eine faire Auszählung, in Anbetracht der aufgeheizten Stimmung im Lande aber auch das Potenzial für Konflikte. Es kann kaum in Frage stehen, dass Putin im ersten Wahlgang siegen wird, womöglich mit etwa 60% der Stimmen. Es ist aber fraglich, ob er in Moskau und St. Petersburg eine Mehrheit erhalten wird. Gegen die Mehrheit der Bürger in diesen Zentren wird er schwerlich regieren können.

4 Gedanken zu „Umbruch in Russland? Eine Zwischenbilanz. Folge III“

  1. Die Webseite ist übersichtlich und umfassend
    Die Artikel Analysen/ Kommentaren sind aktuell, gut verständlich und sehr detailliert ; So etwas suchte man bislang vergeblich.
    Gratulation

    1. Guten Morgen Elena,
      danke für die Frage. In den vergangenen zwei Monaten habe ich wenig am Blog arbeiten können. Das wird sich in Zukunft ein wenig ändern. Ich habe einige Überlegungen zu Texten in der Pipeline.
      Zur innenpolitischen Entwicklung werde ich in wenigen Tagen einen Beitrag veröffentlichen.
      Es grüßt
      Christian Wipperfürth

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