Hintergründe aktueller russischer Innenpolitik

Ein gutes Neues Jahr! C Novym Godom!

Die politischen Verhältnisse in Russland sind in Bewegung geraten. Unten wird kurz dargestellt und analysiert, was geschehen ist und warum. In wenigen Tagen wird ein längerer Beitrag folgen, welchen Verlauf das Kräftemessen zwischen der Führung Russlands und der erstarkten Opposition bis zur Präsidentschaftswahl Anfang März und darüber hinaus nehmen könnte. Einige Tage darauf werde ich Überlegungen anstellen, welchen außen- und weltpolitischen Auswirkungen die neue innenpolitische Dynamik besitzen könnte.

Die russische Innenpolitik verspricht bewegt zu bleiben. Darum werde ich zumindest in den kommenden Monaten zentrale Entwicklungen regelmäßig nachzeichnen und analysieren. Und immer wieder kritischen Bezug auf meine vorhergehenden Beiträge nehmen. Dies wird Ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, die Stichhaltigkeit meiner Deutungen zu überprüfen und Sie vielleicht anregen, im Blog dazu Stellung zu nehmen.

 

Die kremlnahe Partei „Edinaja Rossija“ errang bei den Parlamentswahlen am 4. Dezember nach offiziellen Angaben 49,4 Prozent der Stimmen, etwa 15% weniger als vier Jahre zuvor. Sie verlor ihre Zweidrittelmehrheit, die Verfassungsänderungen ermöglicht, stellt jedoch weiterhin über die Hälfte der Abgeordneten der russischen Duma.

Am 10. Dezember demonstrierten in Moskau zehntausende gegen erhebliche Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Stimmen. Am 24. Dezember fanden sich noch mehr Protestierende zusammen. Die oppositionelle Zeitung „Nowaja Gazeta“ zählte deutlich über 100.000 Teilnehmer, die staatliche Nachrichtenagentur „RIA Nowosti“ 56.000. Diese Zahlen mögen in Anbetracht der Einwohnerzahl der russischen Hauptstadt zunächst nicht sehr beeindruckend sein. Es handelte sich jedoch um die größten Demonstrationen seit Wladimir Putin das Land führt.
Die in den Wochen vor der Wahl abgegebenen Prognosen russischer Meinungsforschungsinstitute weisen keine großen Abweichungen vom amtlich verkündeten Endergebnis des Urnengangs auf. Dies trifft auch auf die Voraussagen des eher oppositionellen „Lewada-Instituts“ zu. Die Ergebnisse der Wahlen sind zugunsten „Edinajas“ um einige Prozentpunkte geschönt worden, spiegeln jedoch im großen und ganzen den politischen Willen der Bevölkerung. – Zumindest in Anbetracht der eher eingeschränkten, aber doch vielfältigen Auswahl auf dem Stimmzettel. In Teilen Russlands, insbesondere Republiken im Nordkaukasus, kann von demokratischen Wahlen jedoch keine Rede sein.

Warum kam es zu den Massenprotesten? Es gibt vor allem zwei Ursachen:

Erstens: Nicht zuletzt in der Stadt Moskau gab es erhebliche und Aufsehen erregende Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Stimmen. Dies erklärt, warum es in der Hauptstadt große Demonstrationen gab, während in St. Petersburg, in dem demokratische Kräfte ähnlich stark sind, nur wenige Tausend Menschen auf die Straßen gingen. In den anderen Millionenstädten waren es meist nur einige Hundert.

Zweitens: In den vergangenen ein bis zwei Jahren ist eine neue Situation entstanden. Das Vertrauen der russischen Bevölkerung, bei den Urnengängen eine wirkliche Wahl zu besitzen, wer das Land führen soll, ist zwar seit vielen Jahren gering. Dies wird bei demoskopischen Untersuchungen wiederholt deutlich, wie folgendes Beispiel zeigt:

(Quelle: Umfragen des Lewada-Zentrums, zuletzt vom 15.–18. April 2011 http://www.levada.ru./press/2011042801.html, in: Russlandanalysen 224, S.  31)

(Mit den in der Frage genannten Wahlen sind die Dumawahlen vom Dezember 2011 sowie die Präsidentschaftswahlen vom März 2012 gemeint.)

Die Bereitschaft der Bevölkerung, die Geschicke des Landes einem engen Kreis um Putin anzuvertrauen nimmt jedoch deutlich ab, wie die Parlamentswahlen belegen. Die Zahl der Protestierenden ist landesweit recht gering. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch hoch, dass sie steigen wird:

Putin genießt zwar seit seinem Amtsantritt im Jahre 2000 die Unterstützung einer Mehrheit der Bevölkerung. Dies wurde selbst noch bei einer Umfrage des Lewada-Instituts Mitte Dezember 2011 deutlich, obgleich die Zustimmungswerte sinken. Auf der anderen Seite ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Fähigkeit und Bereitschaft der Führung, eine Verbesserung der sozial- und innenpolitischen Verhältnisse zu erzielen seit Jahren gering, wie die folgenden Zahlen deutlich machen:

(Quelle: Umfragen des Lewada-Zentrums vom 19.–22. November 2010 http://www.levada.ru./press/2010120902.html, in:Russlandanalysen212, S. 15)

Putin hat – mit viel Glück in Form stark anziehender Energiepreise – Russland aus den Turbulenzen der 1990er Jahre führen können. Nunmehr steht für eine wachsende Gruppe der Bevölkerung nicht mehr Stabilität, wofür das System Putin steht, ganz oben auf der Agenda, sondern Reformen. Viele Millionen Menschen haben die Geduld verloren, dass die Vertreter der gegenwärtigen politischen Ordnung bereit und in der Lage sind, die notwendigen Schritte einzuleiten. Hiervon zeugen die starken Verluste der kremlnahen Partei, der Schöpfung Putins. Es ist nicht zuletzt die soziale Schieflage, die wachsende Empörung weckt.

(Quelle: Umfragen des Lewada-Zentrums, zuletzt vom 13.–16. Mai 2011, http://www.levada.ru./press/2011060802.html, in: Russlandanalysen 224, S. 17)

Es gibt darüberhinaus zwei weitere Faktoren, die seit einigen Jahren eine Proteststimmung begünstigen:

Zum einen haben viele Millionen Russen in den vergangenen Jahren ein hohes Ausmaß an materieller Sicherheit erlangt, wie folgende Werte deutlich machen:

(Quelle: repräsentative Umfragen des Lewada-Zentrums, http://www.levada.ru/press/2011042903.html, in: Russlandanalysen 222, S. 7)

Der relativ steigende Wohlstand ermöglicht zahlreichen Menschen, nicht sämtliche Kräfte für die Sicherung ihrer materiellen Existenz aufbringen zu müssen, sondern über den Tellerrand hinauszuschauen.

Der zweite Faktor ist die Präsidentschaft Medwedews.

Die Bereitschaft der Bevölkerung zu Protesten ist tendenziell gewachsen, weil mehr Menschen – trotz alledem – zur Ansicht gekommen sind, keine Sorge oder Angst vor möglichen Repressionen haben zu müssen. Sie können sich durch die Reaktion der Staatsmacht in den vergangenen Wochen in ihrem Eindruck bestätigt fühlen.

(Quelle: Umfragen des Lewada-Zentrums vom 17.–21.12.2010 http://www.levada.ru/press/2011012000.html, in Russlandanalysen 214, S. 12)

Die Präsidentschaft Medwedews hat dazu zudem geführt, dass reformerische Positionen „hoffähig“ wurden. Der Pluralismus sowie die Kritik- und auch Handlungsbereitschaft der Öffentlichkeit bzw. Presse ist seit ein bis zwei Jahren deutlich gewachsen. (Siehe hierzu auch meinen Blogbeitrag von Ende Oktober.)

Es gibt nunmehr zahlreiche Berichte über Missstände und Aktionen gegen krumme Touren von Vertretern der Elite, die zuvor nicht möglich gewesen wären. All die genannten Faktoren erleichtern, dass sich die ohnedies seit vielen Jahren bestehende Unzufriedenheit mit den Zuständen zunehmend in Misstrauen und Zorn entlädt:

(Quelle: Umfragen des Lewada-Zentrums, zuletzt vom 13.–16. Mai 2011, http://www.levada.ru./press/2011060802.html, in: Russlandanalysen 224, S. 18)

Die Opposition fordert Neuwahlen, während die politische Führung auf den Rechtsweg verweist. Die Erfahrungen der vergangenen Tage machen aber deutlich, dass selbst offenkundige Unregelmäßigkeiten die Justiz nicht zum Einschreiten veranlassen.

Die Bevölkerung ist durchaus gespalten. Während eine deutliche Mehrheit Proteste gegen das Wahlergebnis für legitim hält, scheint nur eine Minderheit Neuwahlen zu präferieren. Nach einer Lewada-Umfrage handelte es sich kurz vor Weihnachten um ein Viertel der Bevölkerung. Aber ließe sich gegen diese Minderheit des oft besonders gut informierten und informierten Teils der Staatsbürger regieren?

Ende Oktober habe ich im Blog folgendes geschrieben:

Ich hatte <im Frühjahr und Sommer 2011> den Eindruck, dass Russland entscheidende oder gar turbulente Zeiten bevorstehen könnten.

Die Gründe hierfür habe ich oben dargelegt. Die Entschlossenheit Putins bei den Präsidentschaftswahlen 2012 erneut anzutreten hatte mich im Herbst jedoch ernüchtert. Ich ging zwar eher von einer Weiterführung, aber einer Drosselung der Geschwindigkeit der Öffnung aus.

Die Entwicklung verlief schneller und bewegter als ich erwartet habe, aber damit stehe ich nicht allein. Viele andere haben gar eine Eiszeit erwartet. Diese war zwar nicht ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich.