Literaturhinweis: Putin. Innenansichten der Macht

Falls Sie ein Buch über die russische Außen-und Innenpolitik lesen wollen: Dieses kann ich Ihnen empfehlen.

Hubert Seipel ist ein erfahrener Journalist. Das Buch ist folglich als Werk eines Medienvertreters weder chronologisch noch systematisch geordnet. Seipel liefert kein umfassendes Bild, aber in einem flüssigen und oft packenden Text zahlreiche bildkräftige Schlaglichter und tiefe Einblicke.

9783455503036

Dies trifft bspw. auf den Teil des Buchs zu (S. 80-86), in dem er die Hintergründe der Vereinigung der russisch-orthodoxen Kirche mit der russischen Auslandskirche beleuchtet, die seit den 1920er Jahren getrennt waren. Diese Frage ist von großer Bedeutung für das Selbstverständnis der Russen und das Heilen der Wunden der Vergangenheit und wird in westlichen Publikationen zu selten thematisiert.

Wladimir Putin hat in den vergangenen zehn Jahren vermutlich mit keinem Deutschen so viel Zeit verbracht wie mit Seipel. Der Journalist begleitete ihn häufig auf dessen Reisen und führte intensive Gespräche und Interviews mit ihm. Das Buch ist gleichwohl keine Biographie, aber der Autor beleuchtet den Menschen Putin vielschichtiger als dies gewöhnlich geschieht. Seipel ist der Ansicht, dass die Grundzüge der russischen Innen- und Außenpolitik weniger dem Willen des Präsidenten entsprängen, dieser setze vielmehr eher vorherrschende Strömungen in Russland um.

Dmitri Medwedew erklärte als Präsident und Ministerpräsident wiederholt, die Führung soll den Stimmungen in der Bevölkerung eher folgen als diese in eine Richtung zu nötigen, die die Mehrheit ablehne. Westlich orientierte Kremlkritiker forderten hingegen, dass eine aufgeklärte Führung den Menschen eine Richtung vorgeben solle.

Seipel hält die westliche Berichterstattung für einseitig bzw. verfälschend. Hierfür bringt er zahlreiche Beispiele. Der Autor hat offensichtlich eine Mission, der Ton seines Buchs ist gleichwohl emotional nicht aufgeheizt oder etwa sarkastisch. Seipel argumentiert und hält sich emotional wohltuend zurück, gleichwohl ist spürbar, dass seine Sympathien eher auf Seiten des Kremls als bei dessen Kritikern liegen. Dies gilt insbesondere bei außenpolitischen Fragen (z.B. Syrien), aber auch für Entwicklungen innerhalb Russlands, bspw. die Gesetzgebung gegen vom Ausland finanzierte Nichtregierungsorganisationen (102-06).

In der westlichen Berichterstattung wird der Kreml meist als der Akteur dargestellt, auf den die Partner oder Kontrahenten lediglich reagieren könnten. Die Wirklichkeit ist jedoch meist vielschichtiger, was Seipel gut herausarbeitet.

Der Autor legt intensiv und wiederholt die Enthüllungen über die geradezu atemberaubenden geheimdienstlichen Aktivitäten der USA (und Großbritanniens) dar. Er schreibt ausführlich über die Person und Leistungen Edward Snowdens, den er als weltweit erster Journalist interviewte (234-42).

Die Entwicklung des deutsch-russischen Verhältnisses bildet einen Schwerpunkt des Buchs. Seipels würdigt Außenminister Frank-Walter Steinmeier und zitiert ihn wiederholt geradezu als Kronzeugen (z.B. 18). Die Ukraine, so der Bundesaußenminister, sei überfordert, wenn sie sich zwischen Europa und Russland entscheiden muss“. Diese Ansicht teile ich.

Die Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht Seipel erkennbar kritischer (bspw. 35-37). Für Bundespräsident Joachim Gauck trifft dies in noch verstärktem Maße zu (z.B. 37).

 

Hubert Seipel: Putin. Innenansichten der Macht, Hoffmann und Campe, Hamburg, 462 Seiten, 22 Euro