In den vergangenen zehn Jahren bin ich tausende Kilometer mit dem Rad durch die russische Provinz gefahren. Ich war vor allem im Süden des Oblast Pskow und im Süden des Oblast Twer, also im Westen des Landes. Meistens war ich allein unterwegs, mitunter mit einem Freund.
Ich war Augenzeuge des vermutlich umfangreichsten „Renaturierungsprogramms“ der Weltgeschichte: Ich vermute, die Natur hat sich in den vergangenen 25 Jahren allein im europäischen Teil Russlands eine Fläche von der Ausdehnung Deutschlands zurückgeholt. Eher mehr als weniger. Die meisten Dörfer sind bereits verlassen, zumindest die etwa 100 , die ich gesehen habe, die Landstädte haben Einwohner verloren. Newel beispielsweise, eine Kreisstadt im Süden des Oblast Pskow, hatte 1989 über 22.000 Einwohner, 2010 waren es noch gut 16.000.
Die Landschaft ähnelt derjenigen im nördlichen Brandenburg bzw. der mecklenburgischen Seenplatte: sandige Böden, leicht hügelig, unzählige Seen. Nur alles ein bisschen weiträumiger. Na ja, man befindet sich halt in Russland.
Hier folgt ein Ausschnitt aus der Landshaft im Süden des Oblast Pskow:
Ganz rechts, in der Mitte der Karte treffen einige gelb markierten Straße zusammen, dort folgt das Städtchen Newel.
Nirgendwo ein Segelboot auf den Seen, von denen es tausende gibt, teils größer als die Müritz. Kein Yachthafen oder Café. Keine Pension oder Feriensiedlung. Mitunter Menschen, die zelten oder mit dem Kajak wasserwandern. Aber – nach allem was ich gehört habe – weit, weit weniger als zu Sowjetzeiten. Die Pionierlager sind geschlossen.
In den Sommermonaten dürfte sich die Bevölkerung in diesem schönen Landstrich – der zudem für russische Verhältnisse gut zu erreichen ist – etwa verdoppeln: durch Kinder, die zur Babuschka aufs Dorf fahren, rüstige Pensionäre, die nunmehr in St. Petersburg oder Moskau wohnen, aber aus der Region stammen und das Sommerhalbjahr auf dem Land verbringen. Und zunehmend, wenngleich bis jetzt vereinzelt, Touristen aus den Städten, die „Urlaub auf dem Land“ machen.
Meine Erlebnisse waren unspektakulär: Einsamkeit, eine gänzlich ungewohnte Ruhe, ein Sternenhimmel, dessen Schönheit man sich als Mitteleuropäer gar nicht vorstellen kann. Gespräche mit Menschen, denen man begegnet: Beispielsweise einem Moskauer Mathematiker, der ganz allein in einem verlassenen Dorf lebt, an einem glasklaren, lang gezogenen See. Oder einem auffallend gut aussehenden jungen Mann, der nach eigenen Worten bereits seit einigen Monaten mit zwei Frauen in der Wildnis zeltete. Ich habe die beiden leider nicht zu Gesicht bekommen …
Ich bin nie jemandem begegnet, der ähnlich wie ich mit dem Rad unterwegs war.
Mein Rat:
Fahren Sie mit dem Nachtzug von St. Petersburg Richtung Süden bzw. von Moskau aus Richtung Westen, z.B. nach Velikij Luki, Sapadnaja Dwina oder etwa Newel. (Fahrkarten lassen sich problemlos und günstig auch von Deutschland aus im Internet erwerben, z.B. bei http://www.russianrailways.com/). Kaufen Sie sich dann vor Ort ein Fahrrad, z.B. solch ein schickes aus weißrussischer Produktion, wie ich es für Touren genutzt habe:
Solch ein Rad kostet neu keine 100 Euro. Einige der Räder, die ich im Verlauf der Jahre gekauft habe waren zuverlässig, andere hatten bereits am ersten Tag eine erhebliche Macke. Nehmen Sie also Flick- und Werkzeug mit.
Besorgen Sie sich Kartenmaterial. Das brauchen Sie unbedingt.
Ich habe mir u.a. folgende Karten besorgt (die, wenn die Angaben unter www.ast.ru zutreffen, nicht mehr bestellbar sind …)
Maßstab 1.200.000, jeweils 60 bis 70 Seiten.
Fahren Sie los! Verlassen Sie sich aber nicht auf das Kartenmaterial! Die Karten bieten lediglich Anhaltspunkte. Russen selbst rechnen nicht damit, dass die Karten die Wirklichkeit abbilden. Sie wundern sich eher, dass es überhaupt Pläne gibt. Zu Sowjetzeiten unterlagen Stadt- und Landpläne weitgehend der Geheimhaltung. Man wollte dem Gegner die Sache erschweren! Und machte somit auch der eigenen Bevölkerung das Leben komplizierter als es sein musste. Detailliertes Kartenmaterial gibt es erst seit den 90er Jahren, in einer nicht allzu hohen Auflage. Die Bewohner der Region haben häufig überrascht reagiert, dass es mittlerweile Karten mit guten Maßstäben gibt.
Vorsicht: Meiner Erfahrung nach existieren die Straßen und Wege in der Regel nicht mehr, die die Grenzen von Oblasti (also „Bundesländern“) bzw. Kreisen überqueren. Dies trifft zum erheblichen Teil auch auf die Wege zwischen Dörfern zu. Richten Sie sich darauf ein, immer wieder umkehren zu müssen. Planen Sie Ihre Routen so, dass mehrere Optionen bleiben, falls sich Wege als Sackgassen oder als nicht mehr passierbar herausstellen, was häufig der Fall sein wird.
Zelten Sie, wo es Ihnen gefällt! Viele der schönsten Stellen werden unzugänglich sein, aber es werden noch hinreichend viele übrig bleiben.
Nehmen Sie etwas gegen Mücken und Stechfliegen mit. Das Beste, was Sie bekommen können. Sie werden es brauchen …
So, das ist die herbe Variante. Die russische. Es gibt auch eine weißrussische: So bin ich mit dem Zug von Moskau nach Orscha gefahren, einem Eisenbahnknotenpunkt im Osten Weißrusslands. Dort habe ich mir ein Rad gekauft und diesen zuverlässigen Atlas, der im Handel weiterhin erhältlich ist (http://www.belkarta.by).
Und bin losgefahren.
Der Unterschied zwischen Russland und Weißrussland ist frappierend: Auf der russischen Seite verfallen Dörfer, unzählige Häuser und zahllose Menschen. Der Mensch zieht sich zurück, die Natur übernimmt das Kommando. Nichts dergleichen in Weißrussland: Dörfer leben, auf meiner 400km-Tour durch die weißrussische Provinz habe ich kein verfallenes Haus gesehen, die Landwirtschaft floriert, Menschen, die wie Alkoholiker aussehen, haben gleichwohl eine Arbeit, werden ins Kollektiv eingebunden. Wenn Menschen in Russland Beeren oder Pilze anbieten, dann stehen sie vereinzelt an den Straßenrändern. Ganz anders in Weißrussland: Dort bietet man gemeinsam an, als Kollektiv.
In Russland stirbt das Dorf, in Weißrussland lebt es. In Russland ist der private Lebensstandard sichtbar höher als in Weißrussland, in Belarus wird für öffentliche Güter deutlich mehr Geld ausgegeben als in Russland. Die Straßen oder etwa öffentlichen Grünanlagen sind in einem besseren Zustand.
Weißrussland hat etwas von der Sowjetunion an sich: Das Kollektive wird höher geschätzt als das Individuelle. Seit meinem Aufenthalt kann ich die Anziehungskraft Lukaschenkos auf viele Menschen in Weißrussland und auch Russland gut nachvollziehen: Er bietet soziale Sicherheit für die unteren zwei Drittel der Bevölkerung und fordert dafür Konformität, womit das obere Drittel der Bevölkerung und die Unruhigen unzufrieden sind. In Weißrussland wird in einem deutlich höheren Ausmaß Anpassung gefordert, als dies in Russland der Fall ist. Weißrussen sind nach meinem Eindruck deutlich vorsichtiger als Russen, eine eigene Meinung zu äußern.
Ich habe auch in Weißrussland dort gezeltet, wo es schön war, also in der Regel an einem See.
In einigen Tagen werde ich mit einem weiteren Reisebericht melden. Worum es gehen wird sehen Sie auf diesem Foto …
Quellen: Gescannte Abbildungen von Karten nach den oben angegebenen Quellen sowie private Fotos.
Das ist ein toller Bericht. Vielen Dank und ich freue mich auf mehr davon!!
Sei herzlich gegrüßt!
Lieber Herr Wipperfürth, auch ich bin sehr beeindruckt von Ihrer Fahrradreise. Beneidenswert, was Sie unternommen haben! Ein Rat an Ihre potentiellen Leser: machen Sie so etwas Ungewöhnliches, solange Sie das Ihrer Verfassung zumuten können! Irgendwann geht es nicht mehr. D.N.