Der Krieg könnte in einigen Tagen, Wochen oder Monaten beginnen. Wenn die Entwicklung so verläuft wie in den vergangenen Monaten, ist er unabwendbar.
Der Kreml besitzt drei Ziele, von denen er nicht abrücken wird:
1. Es soll dauerhaft gesichert sein, dass die Ukraine der NATO nicht beitritt.
2. Die russische Sprache soll einen gesicherten offiziellen Status erhalten, möglichst im gesamten Land.
3. Die Ukraine soll föderalisiert werden, damit der „russlandfreundliche“ Teil auf Dauer Einfluss auf die Politik Kiews ausüben kann.
Werden diese Positionen von Millionen Ukrainern geteilt, oder will Moskau seinem Nachbarn lediglich den eigenen Willen aufzwingen?
Ende 2011 besaß nur gut ein Drittel der Bevölkerung ein positives Bild von der NATO, ein geringerer Prozentsatz als in Russland.
Andere Umfragen kamen in den Jahren zuvor und danach zu ähnlichen Ergebnissen. Die politischen Ansichten von Millionen Ukrainern haben sich in den vergangenen Monaten jedoch verändert. Nunmehr kommen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass sich erstmals eine knappe Mehrheit für einen NATO-Beitritt aussprechen würde, fast die Hälfte der Bevölkerung lehnt ihn aber nach wie vor ab. Eine NATO-Mitgliedschaft bleibt innerhalb der Ukraine zumindest sehr umstritten.
Hinsichtlich der russischen Sprache bot sich nach den Angaben des US-Meinungsforschngsistituts „Pew“ im April 2014 folgendes Bild:
Im Mai wurde eine weitere Untersuchung durchgeführt:
Die Aufschlüsselung der Regionen ist der Abbildung auf der rechten Seite zu entnehmen.
Die Ergebnisse der beiden Umfragen vom Frühjahr ähneln sich. In der gesamten Ukraine gibt es eine deutliche Mehrheit dafür, dass Russisch einen offiziellen Status besitzen sollte. Im Westen des Landes hingegen wollen etwa zwei Drittel nur dem Ukrainischen einen offiziellen Status zugestehen, im Osten jedoch forderte eine deutliche, teils überwältigende Mehrheit, dass Russisch diesen erhalten bzw. behalten sollte.
Die Regionen besitzen seit 2012 bereits die Möglichkeit, einer weiteren Sprache neben dem Ukrainischen regional einen offiziellen Status zu verleihen. Dies stieß auf den erbitterten Widerstand derjenigen Parteien, die ihre Hochburgen im Westen des Landes besitzen. Unmittelbar nach ihrem Machtantritt am 22. Februar 2014 kündigte die neue Führung an, die sprachlichen Autonomierechte aufzuheben. Sie nahm von diesem Vorhaben zwar Abstand, im Osten und Süden des Landes wird jedoch weithin gemutmaßt, dass maßgebliche Kräfte in Kiew nur auf die Gelegenheit warten, ihren Plan durchzusetzen.
Russland hat „russlandfreundliche“ Kräfte nach dem Machtwechsel Ende Februar massiv zu Widerstand ermutigt. Der Kreml trägt eine erhebliche Mitschuld an der Eskalation. Moskau unterstützt die Rebellen diplomatisch und indirekt beispielsweise durch Waffenlieferungen. Die wiederholten Berichte über eine russische „Invasion“ oder auch nur eine quantitativ relevante Beteiligung russischer Soldaten an den Kampfhandlungen in der Ostukraine entbehren jedoch der Grundlage. (S. z.B. http://www.cwipperfuerth.de/2014/08/ende-august-kiew-in-der-defensive/; http://www.cwipperfuerth.de/2014/09/steinmeier-widerspricht-der-ukraine-vor-der-uno/) Die Rebellion besitzt eine nennenswerte Unterstützung in der Bevölkerung. In der Westukraine haben sich patriotisch-ukrainische Stimmungen verstärkt, im Osten hingegen der Widerstand dagegen.
Die Ukraine kann nur zusammengehalten werden, wenn die Kiewer Führung ihren nationalen Eifer erheblich mäßigt und ein Kompromiss geschlossen wird, der den Interessen von Millionen Menschen im Osten und Süden der Ukraine Rechnung trägt. Danach sieht es nicht aus. Dabei haben die ukrainischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen das Misstrauen, die Distanz, womöglich sogar die Feindseligkeit eines erheblichen Teils der Bevölkerung im Osten und Süden gegenüber Kiew deutlich gezeigt. (S. http://www.cwipperfuerth.de/2014/11/die-gespaltene-ukraine-eine-analyse-der-ukrainischen-wahlen/)
Es mehren sich die Indizien, dass nicht nur eine zumindest nennenswerte Minderheit im Südosten eine Abspaltung fordert. Dies scheint zunehmend auch die russische Position zu werden, da es keine Aussichten gibt, einen Kompromiss zu erzielen, der etwa eine Föderalisierung der Ukraine beinhalten müsste.
Zudem ist die wirtschaftliche und soziale Lage in den Rebellengebieten und in der Ukraine selbst so katastrophal, dass die eine oder andere Seite versucht sein dürfte, die Waffen sprechen zu lassen.
Es gibt drei Varianten:
1. Der Westen setzt die Kiewer Führung finanziell und militärisch instand, die Rebellion im Osten sowohl gewaltsam einzuhegen als auch eine glaubwürdige Zukunftsperspektive bieten zu können. Dies würde nicht nur Kredite erfordern, wie bislang, sondern nicht zurückzuzahlende Mittel. Es müsste sich im Verlauf einiger Jahre um einen hohen zweistelligen Milliardenbetrag handeln, womöglich gar mehr.
2. Kiew, die Rebellen, der Westen und Russland schließen einen Kompromiss –nach dem es nicht aussieht. Dieser liefe darauf hinaus, dass der Westen und Russland die Ukraine gemeinsam stabilisieren.
3. Der Krieg. Er droht noch weit blutiger zu werden als der Waffengang im Sommer, dem über 4.000 Menschen zum Opfer fielen.
Die Grenzen des Staates „Noworossija“, der in den kommenden Monaten vermutlich entstehen wird, können wir erahnen. Sie werden in nordost-südwestlicher Richtung verlaufen, ähnlich der Spaltung der Ukraine bei den Wahlen in den vergangenen 20 Jahren und mehr oder minder das blau markierte Gebiet umfassen.
Die Ukraine droht in einer Katastrophe zu versinken. Die Konsequenzen für die westlich-russischen Beziehungen – und auch für das innenpolitische Klima in Russland – mag man sich nicht ausmalen.
Bin ich zu pessimistisch? Ich hoffe es, aber ich fürchte, realistisch zu sein.
Quellen der Abbildungen:
1 Dezember 2011, Pew Research Center, Global Attitudes Project, Twenty Years Later. Confidence in Democracy and Capitalism Wanes in Former Soviet Union, S. 6
2 http://www.pewglobal.org/2014/05/08/despite-concerns-about-governance-ukrainians-want-to-remain-one-country/
3 Quelle: Repräsentative Umfrage des Zentrums »Sozis« zusammen mit dem Kiewer Internationalen Institut für Soziologie (KIIS) und der Agentur für soziologische Umfragen »Rating« vom 8.–13. Mai 2014, <http://socis.kiev.ua/ua/press/rezultaty-sotsiolohichnoho-doslidzhennja-reytyn hy-kandydativ.html> , in: Ukraineanalysen 133, S. 18
4 Ukraineanalysen 133, S. 17
7 http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/71/Ukraine_Wahlen_2004_2.png
Wie realistisch sind die von Ihnen aufgeführten drei Szenarien?
Es ist kaum anzunehmen, dass der Westen Soros‘ „Marshall-Plan“-Idee aufgreift und im nötigen Umfang Finanzmittel bereitstellt. Angesichts der Tatsache, dass bereits Polen als EU-Nettoempfänger eine zweistellige Milliardensumme erhält, lässt sich ausmalen, um welche Größenordnung es sich dabei handeln würde.
Aber auch gegen die dritte Alternative, eine militärische Eskalation, scheint Einiges zu sprechen. Wie die letzte Wahl in der Ukraine, aber auch die Lage in den baltischen Ländern mit ihren großen russischsprachigen Minderheiten offenbaren, ist die Bereitschaft zu aktivem Widerstand gegen diskriminierende Praktiken innerhalb der postsowjetischen Bevölkerung gering. Zudem hat Kiew Probleme mit der Kampfmoral seiner Soldaten, und auf der anderen Seite werden die Separatisten nicht die für einen Eroberungsfeldzug erforderliche Mannstärke und Ausrüstung erreichen.
Ein außer Kontrolle geratender Waffengang kann weder im russischen noch im westlichen Interesse sein. Schon gegenwärtig üben sich die „Schutzmächte“ der ukrainischen Konfliktparteien in kritischer Distanz, wenn auch meist nur „zwischen den Zeilen“. Vieles spricht somit für einen Kompromiss, auch wenn dessen Durchsetzung massiven Widerstand hervorruft. Anders als im zweiten Szenarium nahegelegt, braucht dieser nicht in einer konstruktiven Atmosphäre erfolgen, d.h. mit dem Ziel einer gemeinsamen Stabilisierung der Ukraine. Wahrscheinlicher erscheint gegenwärtig ein Einfrieren des Konflikts.
Sehr geehrter Herr Murawski,
vielen Dank für Ihren Kommentar!
Sie haben Recht: Ein „Marshall-Plan“ ist nicht abzusehen. – Wobei im Hinterkopf behalten werden sollte, dass in die westlichen Besatzungszonen Deutschlands bzw. die frühe Bundesrepublik über einige Jahre verteilt weniger als 2 Milliarden US-Dollar aus dem Marshall-Plan flossen.
Die Vernunft spricht für einen Kompromiss. Eine dramatische Eskalation ist für alle Beteiligten mit sehr hohen Risiken behaftet. Gleichwohl ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Entwicklung darauf zusteuert. Dies hat insbesondere mit der sozialen und wirtschaftlichen Lage in den Rebellengebieten und der Ukraine zu tun.
Unter einer extremen psychischen Anspannung, unter der die Verantwortlichen in allen Teilen der Ukraine zweifellos stehen, werden häufig Fehler oder Unachtsamkeiten begangen.
Ein Einfrieren des Konflikts ist denkbar, aber, so befüchte ich, nur für einige Monate. Hoffen wir, dass Sie mit Ihrem Optimismus Recht haben.
Ein erneuter Waffengang ist nicht sicher, die Gefahr aber hoch. Ich halte es für wichtig, hierauf aufmerksam zu machen.
Es grüßt Sie
Christian Wipperfürth
Die Analyse ist -wie gewohnt- so präzise, wie die Arbeit eines guten Chirurgen.
Allein die Folgerungen scheinen mir zu kurz und bündig.
Gibt es wirklich nur die drei aufgezeigten? Wie wär´s mit einem Mix oder gar einem Cocktail?
Diplomatie ist doch …
Wie eine angestrebte Lösung auch aussehen mag: Es darf für Putin kein Gesichtsverlust geben. Das hätte innenpolitisch unvorstellbare Folgen und auch für die anderen schwelenden Brandherde genauso wie für Teile die baltischen Staaten und Moldau um nur diese als Beispiel zu nennen.
Die Analysen hier unverzichtbar.
In diesen Zeiten scheint es mir ein „Segen“ zu sein, daß Deutschland weder krisengeschüttelt, noch von schwachen Führungspersönlichkeiten regiert wird (Kanzlerin und Außenminister)
Es grüßt Volker Leopold sen.
Lieber Volker Leopold,
danke für den Kommentar – und nicht zuletzt den ersten Satz.
Die Folgerungen scheinen zu kurz: Das ist richtig. Ich wollte akzentuiert formulieren. Und fürchte die Dramatik der Situation wird gemeinhin teils deutlich unterschätzt, teils wird die Verantwortung hierfür nur einer Seite zugeschoben, was ebenso verfehlt ist.
Beste Grüße von
Christian Wipperfürth