Die gespaltene Ukraine. Eine Analyse der ukrainischen Wahlen

Seit Mitte der 1990er Jahre bot sich bei Wahlen in der Ukraine durchweg folgendes Bild, sowohl bei Parlaments- als auch Präsidentschaftswahlen: Im nordwestlichen Teil wurden bevorzugt Parteien und Kandidaten gewählt, die sich „proeuropäisch“-nationalistisch gaben, in der südöstlichen Hälfte hingegen Parteien und Kandidaten, die „russlandfreundlich“ waren, oder dies zumindest vorgaben.
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Die Bevölkerung in „Transkarpatien“, das sich auf der Karte links befindet, zeigte bei Wahlen eine Präferenz für „russlandfreundliche“ Bewerber. Die Region beheimatet eine starke ungarische Minderheit, die ukrainisch-nationalistische Tendenzen ablehnt.
Die Urnengänge dieses Jahres scheinen auf den ersten Blick zu einem neuen Muster geführt zu haben. Hat sich die Bevölkerung in der gesamten Ukraine die Präferenzen des nordwestlichen Landesteils zu Eigen gemacht?
Die ukrainischen Präsidentschaftswahlen vom 25. Mai konnte Petro Poroschenko bereits im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit für sich entscheiden. Insgesamt entfielen 80 % der Stimmen auf Kandidaten, die – ganz im Gegensatz zu den Rebellen in der Ostukraine – für eine Westbindung und eine starke Zentralgewalt eintraten. Bewerber, deren Ansichten als mehr oder weniger „russlandfreundlich“ gelten konnten, erhielten zusammen lediglich 10 %. Die beiden stark rechtslastigen („Swoboda“) bis rechtsextremen Kandidaten („Rechter Sektor“), die die Regierung mit trugen, errangen zusammen unter 2 % der Stimmen.
Andererseits aber erhielten der Wahlsieger und die zweitplatzierte (Julija Timoschenko) bei dem Urnengang zusammengenommen weniger Stimmen als allein der vorige Präsident Wiktor Janukowitsch bei der Wahl 2010 errungen hatte. Die Wahlbeteiligung war im Westen und in der Mitte des Landes nicht besonders hoch, im traditionell „russlandfreundlichen“ Süden und Osten jedoch sehr niedrig, auch in Gebieten, in denen der Urnengang ohne Probleme durchgeführt werden konnte. Der Vorsitzende der Kommunisten hatte seine Kandidatur nach eigenen Angaben aufgrund massiver Einschüchterungen zurückgezogen, ebenso wie der pro-russische Parlamentarier Oleh Zarjow, der über zahlreiche Anhänger verfügte. Zarjow schloss sich schließlich den Rebellen an. 2004 wurden bei den Präsidentschaftswahlen über 28 Millionen Stimme abgegeben, 2014 waren es weniger als 18 Millionen.
Die Parlamentswahlen von Ende Oktober ähnelten den Präsidentschaftswahlen fünf Monate zuvor: Das Ergebnis war nur auf den ersten Blick eine Bestätigung der Politik Kiews. Bei einer näheren Analyse fällt wieder die ungewöhnlich niedrige Wahlbeteiligung im Süden und Osten der Ukraine auf.
In Odessa betrug sie bei den Parlamentswahlen 2012 49,6 %, in diesem Jahr lediglich 38,4 %. Für Charkiw lauten die Angaben 53,1 % zu 44,5 %, für Dnipropetrowsk 53 % zu 47,1 %.
Zudem siegten im Süden und Osten des Landes relativ häufig Vertreter der stark geschwächten Opposition, wie folgende Übersicht deutlich macht.
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Die Partei des Ministerpräsidenten Jazenjuk (die auf der Karte ockerfarben markiert ist), der eine besonders scharfe Linie gegen Russland fährt und sich überaus betont patriotisch gibt, erhielt im Süden und Osten des Landes (ebenso wie in großen Teilen Transkarpatiens) nicht allzu viele Stimmen.
Es ist auch bemerkenswert, dass in Mariupol (blau markierte) „russlandfreundliche“ Kandidaten die Wahl gewannen. Die Stadt hat etwa 470.000 Einwohner, wird von Kiew kontrolliert, aber von den Rebellen beansprucht.
Die beiden Karten und Wahlmuster ähneln sich letztlich. Der Unterschied liegt in zweierlei. Zum einen haben scheinbar „russlandfreundliche“ Kandidaten und Parteien in der Vergangenheit deutlich gezeigt, weit mehr an ihrem eigenen Wohlergehen interessiert zu sein als an dem ihrer Wähler. Die „pro-westlich“-nationalistischen Bewerber haben sich in den Jahren ihrer Macht nach der „Orange-Revolution“ (S. http://www.cwipperfuerth.de/2013/01/die-ukraine-zwischen-russland-und-dem-westen-zweiter-teil-die-%E2%80%9Eorange-revolution-im-oktobernovember-2004/) in den Augen der Mehrheit ähnlich verhalten und wurden darum bei Wahlen abgestraft. Aber das war vor einigen Jahren.
Zum zweiten möchte ich aus einer Analyse des Journalisten Andreas Stein zitieren, die dankenswerter Weise von der „Böll-Stiftung“ veröffentlicht wurde:
„Diese Wahlen im Zeichen des Krieges können allerdings nur bedingt als frei bezeichnet werden. Niemand kann derzeit in der Ukraine Kandidaten, die nicht im patriotischen Mainstream schwimmen, freie Bewegung und eine freie Kampagne garantieren. Die radikalisierten und zum Teil bewaffneten Teile der ukrainischen Gesellschaft gehen gewaltsam gegen Vertreter anderer Meinungen vor. Diffamierungen als „Agent des Kremls“, „Separatist“, „Kollaborateur“ oder „Vaterlandsverräter“ und darauffolgende Selbstjustiz sind angesichts des fehlenden Vertrauens in die Rechtsorgane an der Tagesordnung. Eine Teilschuld hierfür liegt bei der Postmaidan-Regierung, die außer Ankündigungen nichts für eine Reform der Justiz oder der Miliz unternommen hat – dabei immer wahlweise auf die nichtkooperative Rada, den Krieg oder „Vertreter des alten Regimes“ verweisend. Vor dem Hintergrund von Durchsuchungen durch den Geheimdienst SBU bei der Tageszeitung Westi und der Druckerei (!) und öffentlichen Drohungen gegen den Journalisten kann nur schwer von einer freien Meinungsäußerung im Land die Rede sein. Das dabei erzeugte Klima der Angst dürfte eher radikalen Kräften nutzen, da ein Teil der Ukrainer aus Mangel an Alternativen erst gar nicht zur Wahl gehen könnte.“ (http://www.boell.de/de/2014/09/29/ukraine-parlamentswahlen-im-zeichen-des-krieges)
Der Krieg wird erneut aufflammen, wenn es Kiew nicht gelingt, die Herzen von Millionen Menschen im Süden und Osten des Landes zu gewinnen. Ich fürchte, die Zeichen stehen auf Sturm.

Quellenangaben:

Karte 1: Kartografie: Sebastian Klüsener; Quelle der Daten: Zentrale Wahlkommission, http://www.cvk.gov.ua , in: Ukraineanalyse 109, S. 9
Karte 2: http://www.electoralgeography.com/new/en/wp-content/gallery/ukraine2014l/Ukrainian_parliamentary_election,_2014.png