Russland und die Turbulenzen im Euroraum

Die europäische Währungsunion befindet sich in einer schweren Krise. Diese wird möglicherweise zu einem neuen Integrationsschub führen. Die Zentrifugaltendenzen innerhalb der Union sind in den vergangenen ein bis zwei Jahren aber so stark angewachsen, dass ein Auseinanderbrechen des Währungsraums denkbar geworden ist. Unabhängig davon, ob der eine oder andere Fall, oder eine Kombination beider eintritt, kann Folgendes festgehalten werden:

–           Ein möglicher Beitritt in die EU oder die Währungsunion hat für bisherige Nicht-Mitglieder beträchtlich an Attraktivität verloren. Darüber hinaus gilt:

–           Die Länder West- und Mitteleuropas werden in den kommenden Jahren in einem noch höheren Maße als in der Vergangenheit mit sich bzw. mit Problemen der Währungsunion oder der EU befasst sein. In einigen EU-Ländern hat bereits eine schwere Wirtschaftskrise eingesetzt. Sie könnte auf weitere europäische Volkswirtschaften übergreifen und einige Jahre währen. In Verbindung damit könnte es zu schweren innenpolitischen Turbulenzen kommen. Eine EU-Erweiterung oder auch nur eine Vorbereitung darauf sind in Anbetracht dieser Situation nicht denkbar (von den Ausnahmen der kleinen Staaten des ehemaligen Jugoslawien abgesehen). Und nicht nur das:

–           Die EU oder einzelne ihrer Mitgliedsstaaten werden in Zukunft in einem deutlich geringeren Maße als noch vor kurzem als Anker oder Orientierungspunkt für die Politik etwa der Türkei, der Ukraine oder der Länder Zentralasiens gelten können. Ihr Einfluss ist bereits deutlich gesunken.

Welche Auswirkungen hat diese Situation, in aller Kürze, auf Russlands Außenpolitik?

Der Handlungsspielraum Russlands im postsowjetischen Raum ist aufgrund der gesunkenen Fähigkeiten bzw. Anziehungskraft der EU und ihrer Mitglieder deutlich angestiegen. Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts war die Orientierung auf die EU für mehrere der Nachbarn Russlands eine attraktivere Möglichkeit als diejenige nach Russland. Dieses Verhältnis hat sich umgekehrt. Russland nutzt diesen Zustand und tritt seit einigen Jahren fordernder auf, wie etwa Moskaus Ukrainepolitik zeigt.

Andererseits ist der Kreml auch genötigt Lücken zu füllen, die der Westen hinterlässt. China ist so weit erstarkt, dass Peking zu einem ernsthafteren Konkurrenten in der Region herangewachsen ist als dies etwa Washington oder Brüssel zur Zeit und zumindest auf einige Jahre hin sein können. Russland hat sich durch die Schwäche des Westens also einerseits die Möglichkeit eröffnet, Länder des postsowjetischen Raums stärker an sich zu binden, es sieht sich hierzu aber auch genötigt, um ihrem Abdriften Richtung Peking entgegen zu wirken.

Das zweitgenannte Motiv scheint mir gewichtiger als das erste. Folglich besitzen Deutschland, die EU und der Westen in seiner Gesamtheit ein Interesse daran, dass die Integrationsprojekte Russlands im postsowjetischen Raum ein Erfolg werden. Die Länder Zentralasiens können die sicherheitspolitischen Herausforderungen, die nach dem Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan vermutlich deutlich anwachsen werden, nicht allein bewältigen. Sie benötigen eine Ankermacht. Es liegt in unserem Interesse, dass sich die Länder der Region Richtung Nordwesten, also Russland, und nicht Richtung Osten orientieren. Hierfür sprechen gewichtige strategische und zivilisatorische Gesichtspunkte.

Die EU scheint mittlerweile verstanden zu haben, dass Russland im postsowjetischen Raum weniger als Konkurrent, sondern eher als Partner zu betrachten ist. Herman van Rompuy, der Präsident des Europäischen Rates, sagte Anfang Juni auf dem EU-Russlandgipfel in St. Petersburg, dass die EU russische Pläne der Bildung einer „Eurasischen Union“ begrüße. Und José Manual Barroso, der Präsident der Europäischen Kommission, griff bei derselben Gelegenheit die Worte Putins auf, in Zukunft eine gemeinsam Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok schaffen zu wollen.

Russland wies in den vergangenen knapp drei Jahren ein solides wirtschaftliches Wachstum auf. Es zeigt jüngst aber deutliche Schwächen. Die ökonomischen Turbulenzen in Mittel- und Westeuropa beginnen Auswirkungen auch auf Russland zu zeigen, nicht zuletzt durch seit Wochen sinkende Öl- und somit Gaspreise. Russland wickelt etwa 50% seines Außenhandels mit Ländern der EU ab.

Russland verfügt zwar über hohe Devisenreserven, die dritthöchsten der Welt, und zudem über einen milliardenschweren Stabilisierungsfonds, der die Auswirkungen der Schwankungen des Öl- und Gaspreises auf den russischen Haushalt ausgleichen soll:

Quelle: Bank of Finland Institute for Economies in Transition, BOFIT Russia Statistics, http://www.bof.fi/bofit_en/seuranta/venajatilastot/ , in: Russlandanalysen 239, Seite 8

Der Rubelkurs befindet sich seit dem Frühjahr gleichwohl unter Druck. 80% der Auslandskredite russischer Banken kommen von Banken aus dem EU-Raum. Insbesondere italienische, aber auch andere Banken haben ihr Russland-Engagement seit vergangenem Jahr bereits beträchtlich reduziert. Russland ist bei weitem nicht mehr so abhängig von Krediten aus dem EU-Raum wie zu Beginn der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahre 2008, die russische Zentralbank sah sich aber im vergangenen Winter zu Recht zu Maßnahmen veranlasst, um einem drohenden Kreditengpass für die heimische Wirtschaft entgegenzuwirken.

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich das russische Wirtschaftswachstum zumindest abschwächt. Falls es zu einer Rezession kommt, wird Russland innenpolitisch vermutlich rasch in sehr unruhige Gewässer kommen. Eine weitere, deutliche, aber zugleich abgewogene  Öffnung des politischen Systems Russlands ist dringend erforderlich. Um die Zukunftsfähigkeit Russlands im Innern zu stärken und seine Handlungsfähigkeit nach Außen.