Die Kandidaten des ukrainischen Präsidentschaftswahlkampfs

Nirgendwo misstrauen die Bürger ihrer politischen Führung so sehr wie in der Ukraine. Am 31. März sind Präsidentschaftswahlen …

Die meisten Bürger der Ukraine verabscheuen die Elite ihres Landes, oder haben sich zumindest angewidert abgewendet. Ist dies der Vorbote eines Wechsels – nicht nur des Staatsoberhaupts, sondern der Politik? Im Oktober 2018 veröffentlichte die Schweizer Bank „Credit Suisse“ eine Studie über das Vermögen der Bürger in verschiedenen Ländern weltweit. Die Ukrainer lagen demnach hinter den Bewohnern Nepals, Bangladeschs und Kameruns. (Zur Bestandsaufnahme der Situation in der Ukraine s. http://www.cwipperfuerth.de/2019/03/25/eine-bilanz-die-ukraine-seit-2014/; http://www.cwipperfuerth.de/2019/03/26/die-ukraine-seit-2014-eine-bilanz/; http://www.cwipperfuerth.de/2019/03/27/die-ukraine-fuenf-jahre-nach-dem-maidan-der-dritte-teil-der-bilanz/.)

Das Potenzial des Landes wird bei weitem nicht ausgeschöpft – zumindest nicht zu Gunsten der Normalbürger … Könnten die anstehenden Wahlen zu einem substanziellen Kurswechsel führen? Ihr Ergebnis steht immerhin nicht von vornherein fest, anders als bei manchen GUS-Nachbarn. Aber nicht einmal die „Orange Revolution“ von 2004 und der Maidan 2014 hat an der Situation etwas wirklich zum Besseren gewendet. Kann dies bei „bloßen Wahlen“ besser gelingen?

Dreierlei war im Herbst 2018 klar:

  1. Der Amtsinhaber Petro Poroschenko hat nur dann Aussichten auf eine weitere fünf Jahre, wenn er die Zahl seiner Anhänger vervielfacht. Und/oder wenn er zu Maßnahmen greift, die am Rande der Legalität liegen bzw. gesetzwidrig sind.
  2. Neben dem amtierenden Staatsoberhaupt wird Julija Timoschenko antreten. Sie ist ehemalige Ministerpräsidentin und die führende Person einer gut organisierten Partei. Sie verfügt über Kontakte mit Kolomoyskyi und es sieht danach aus, dass beide Absprachen getroffen haben. Der Oligarch erklärte bereits im Frühjahr 2018, die Politikerin bei den Wahlen zu unterstützen. Und die zahlreichen von Kolomoyskyi kontrollierten Medien setzten dies in die Praxis um. Am 12. Juli 2018 traf er sich zudem mit Timoschenko in Warschau, was geheim bleiben sollte, aber bekannt wurde.
    3. Im Herbst 2018 sah es zudem danach aus, dass es einen Anti-Establishment-Überraschungskandidaten geben wird. Es gab verschiedene Anwärter. Die große Mehrheit der Bürger hatte von der traditionellen politischen Elite, zu der auch die beiden Erstgenannten gehören, die Nase voll.

Zu den aussichtsreichsten Prätendenten auf das höchste Staatsamt der Ukraine:

Der Wahlkämpfer Poroschenko

„Neu leben“ war Poroschenkos Wahlkampfmotto im Jahr 2014. Dies muss den Ukrainern nach fünf Jahren unter seiner Führung wie bitterer Sarkasmus vorkommen. So entschied er sich für die Losung „Armee, Sprache, Glauben“. Über den Kampf gegen die Korruption oder substanzielle Reformen spricht er praktisch nicht mehr.

Die prekäre Situation der Ukrainer und seine eigenen Interessen lassen dem Oligarchen-Präsidenten keine andere Chance: er muss den Fokus von den eigentlichen Problemen seines Landes ablenken und spielt noch stärker als in den Jahren zuvor auf der nationalistischen Klaviatur. Er verliert dadurch zwar mögliche Wähler, v.a. im Süden und Osten der Ukraine. Dafür jedoch bindet er die lautstarken und entschlossenen Hyper-Patrioten noch stärker an sich. Diese dürften etwa ein Fünftel der Bevölkerung zählen.

Die zentralen Botschaften Poroschenkos sind: Er – oder Putin. Eine weitere Amtszeit für ihn – oder das Land gerät wieder in den Griff des Kremls. Und diese Gefahr sei akut!

Folglich sind militärische Spannungen mit Russland aus Sicht Poroschenkos gut geeignet, um seine Wähler zu mobilisieren und neue zu gewinnen. Denn er selbst als  Präsident ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Wer schart sich nicht hinter dem Kommandeur, wenn ein Angriff der Feinde droht? So kam Ende November 2018 Poroschenko der Zwischenfall in der Meerenge von Kertsch zupass, abgesehen davon, wer die Hauptverantwortung für ihn trägt.

Ukrainische und russische Soldaten geraten erstmals direkt, von beiden Seiten bestätigt, aneinander. Poroschenko erklärt daraufhin im Fernsehen und vor der Volksvertretung, es drohe ein russischer Angriff. Hierbei verweist er auf Geheimdiensterkenntnisse (die natürlich nicht öffentlich gemacht werden könnten …). Ebenso argumentiert der Vertreter der Ukraine vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.

Der Präsident fordert, über das gesamte Land das Kriegsrecht zu verhängen, erstmals überhaupt. Dies hätte nicht zuletzt eine Aussetzung der am 31. März 2019 anstehenden Wahlen bedeutet. Daraufhin wenden sich drei ehemalige Präsidenten des Landes an die Volksvertreter, fordern sie auf, dem Verlangen des amtierenden Staatsoberhaupts nicht statt zu geben und mutmaßen (wie viele andere), Poroschenko fordere das Kriegsrecht, damit der Wahlgang ausgesetzt werde. Der gefundene Kompromiss ließ das Wahldatum am Ende unberührt.

Die Unterstützung für Poroschenko steigt seit Herbst zwar an, er bleibt bei den Wahlumfragen aber gleichwohl deutlich unter 20%. Poroschenko wird vor den Wahlen zu Maßnahmen greifen, die am Rande der Legalität liegen oder diese bereits verletzen. Dies ist in den vergangenen Wochen auch bereits mehrfach geschehen. Näheres hierzu folgt in Kürze in einem weiteren Beitrag. Wenden wir uns zunächst einer weiteren Prätendentin für das höchste Staatsamt zu:

Die Wahlkämpferin Timoschenko

Sie wurde in den 1990er Jahren durch fragwürdige Gasgeschäfte sehr wohlhabend und gehört seit fast 20  Jahren zu den einflussreichsten Führungspersönlichkeiten des Landes. Julija Timoschenko gibt sich ebenfalls patriotisch. Sie verlangt vom Westen, ebenso wie der Präsident, verschärfte Sanktionen gegen Russland. Sie versucht, Wähler aber v.a. mit sozialen Fragen zu überzeugen. Die Forderungen des IWF den Gaspreis zu erhöhen, nennt sie „wirtschaftlichen Völkermord“. Sie verspricht im Falle ihrer Amtsübernahme die Energiepreise beträchtlich zu verringern und am Ende ihrer Präsidentschaft die Durchschnittslöhne auf das Niveau der polnischen Nachbarn zu heben. Dies bedeutet eine Verdreifachung.

Darüber hinaus erklärt sie wiederholt, Poroschenko und sein Umfeld strafrechtlich belangen zu lassen.

Die Politikerin führte die Umfragen bis in den Spätherbst an. Seither hat Poroschenko seine Klientel so weit mobilisiert, dass sie sich seitdem ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern.

Millionen Ukrainer verbinden mit Timoschenko seit vielen Jahren große Hoffnungen. Andererseits scheinen ihre großen Worte der Mehrheit unglaubwürdig. Sie ist seit langem Teil des Establishments und trägt folglich Mitschuld an der Misere.

Nur rund Drittel der Wahlberechtigten beabsichtigt, am 31. März für Poroschenko bzw. Timoschenko zu votieren. Zusammengenommen. Vor allem der Präsident, aber auch Timoschenko wecken mehr Abneigung als Zustimmung. Dies eröffnet Raum für einen Joker:

Der Überraschungskandidat

Unmittelbar vor Mitternacht, Silvester 2018, bekommen Millionen Menschen, die den Fernsehsender „1+1“ eingeschaltet haben, nicht die angekündigte Neujahrsansprache des Staatsoberhaupts zu sehen. Stattdessen gibt Wolodymyr Selenskyjs seine Kandidatur für das höchste Staatsamt bekannt. Hierüber wurde bereits seit Monaten spekuliert.

Der Sender „1+1“ gehört Kolomyskyi.

Wolodymyr Selenskyj ist seit vier Jahren Held der Fernsehserie „Diener des Volkes“. Er spielt dort einen Lehrer, der über die ukrainische Elite herzieht. Ein Schüler nimmt dies auf und stellt es ins Internet. Der Lehrer wird daraufhin ein Star, er kandidiert, wird tatsächlich Präsident und beginnt, unter der korrupten Elite aufzuräumen. Will Selenskyi diesen Plot in die Wirklichkeit umsetzen? Oder ist er ein Handlanger Kolomoyskyis?

Selenskyi wuchs in einer Akademiker-Familie auf und studierte Jurisprudenz in Kiew. Er hatte bislang keine politische Ämter inne.

Der 41jährige Selenskyi führt die Umfragen recht deutlich an. Am 31. März wird er keine Mehrheit der Wähler hinter sich vereinen, aber sehr wahrscheinlich einer der beiden Kandidaten der Stichwahl am 21. April sein.

Er gibt nur wenig Interviews, er führt keine Großveranstaltungen unter freiem Himmel ab. Seine Wahlkampfarena sind das Fernsehen und der virtuelle Raum. Selenskyi wird stets von Kameraleuten begleitet und hat 2,7 Mio. „Follower“ auf Instagram.

Die vorherrschende Stimmung: „Establishment NEIN!“ eröffnet (selbst) ihm die Chance auf die Präsidentschaft. Seine zwei Hauptbotschaften an die Wähler sind:

  1. Ich bin einer aus dem Volk, keiner aus den Eliten, die immer vorgeben, alles besser zu wissen!

Selenskyi fordert die Menschen auf, ihm Kandidaten für den Posten des Premierministers oder z.B. des Generalstaatsanwalts zu benennen. Einzige Bedingung sei: Die Anwärter dürften keine politische Erfahrung mitbringen … Er werde als Staatsoberhaupt mit der Bevölkerung gemeinsam ein „Dream Team“ zusammen stellen.

Mit dem russischen Präsidenten will er Verhandlungen über die Krim und den Donbas führen. Das Volk soll daraufhin über die Ergebnisse abstimmen.

  1. „Versöhnen, nicht spalten”

Die Identitätspolitik Poroschenkos vertieft mit der forcierten Ukrainisierung bereits vorhandene Spannungen. Der Überraschungskandidat hingegen wechselt ständig zwischen Ukrainisch und Russisch. Das gilt in der Ukraine Vielen als geradezu anrüchig: Ein Präsidentschaftskandidat, der sich nicht ausschließlich der Staatssprache, sondern auch derjenigen des Aggressors bedient? Selenskyi weigert sich auch seine religiösen Überzeugungen offen zu legen. Poroschenko hingegen streicht sie sehr heraus.

Welche Unterstützerbasis hat Selenskyi?

Es sind einerseits die Jungen, die in der virtuellen Welt zu Hause sind. Bei den über 60jährigen besitzt er nur wenig Anhänger. Selenskyi ist andererseits der Kandidat des Südens und Ostens der Ukraine, wo er Poroschenko und Timoschenko weit voraus ist. Selenskyi betont durchaus, dass die Krim und der Donbas in den ukrainischen Staatsverband zurückgegliedert werden müssten, macht aber zugleich deutlich, Russland gegenüber zu Kompromissen bereit zu sein. Selenskyi spricht sich zwar sowohl für die EU- als auch die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine aus, fragt aber, warum diese seinem Land keine klare Aussicht auf Mitgliedschaft eröffnen würden? Dieser Einwurf ist berechtigt, er wird von anderen Kandidaten nicht getan. Selenskyis Frage legt den Zweifel nahe, ob die westlichen Einrichtungen die Ukraine aufnehmen werden, was insbesondere der amtierende Präsident jedoch behauptet. Selenskyis Botschaft ist indirekt aber deutlich: Es wäre ein Fehler, sich ausschließlich auf die westliche Option festzulegen.

Selenskyi will den multiethnischen Charakter seines Landes erhalten und die Chancen für einen Ausgleich mit Moskau verbessern. Seine Anhänger hegen tendenziell entspannte oder gar freundschaftliche Gefühle gegenüber Russland.

Und was ist mit „russlandfreundlichen“ Präsidentschaftskandidaten? Juri Boyko und Oleksandr Wilkul gelten zwar als „pro-russisch“, sind es aber im Grunde genau so wenig, wie etwa Poroschenko „prowestlich“ ist. Sie verfolgen v.a. eigene Interessen, sie sind Oligarchen oder entsprechenden Clans verpflichtet. Bei Selenskyi wissen wir es noch nicht.

Selenskyi ist als Politneuling derjenige Bewerber, der mit größter Glaubwürdigkeit für saubere Verhältnisse steht. – Warum ist es keiner der liberalen, pro-westlichen Nichtregierungsorganisationen? Weil diese nicht so stark und populär sind, wie sie in den westlichen Medien mitunter gezeichnet werden. Sie verfügen über ähnlich wenig Anhänger wie die Rechtsradikalen, mit dem Unterschied allerdings, dass letztere bewaffnet und gewaltbereit sind.

In Kürze folgt ein Beitrag zum Verlauf des Wahlkampfs.