Eine bedrohliche Zuspitzung ist sehr unwahrscheinlich, aber möglich, da beide Seiten wiederholt Maßnahmen ergreifen, die von der anderen als provokativ gedeutet werden. Deutschland möchte die Situation durch konkrete Vereinbarungen entspannen, wogegen sich einige NATO-Partner sperren. Für sie sind entgegenkommende Signale Russlands ein Ablenkungsmanöver.
Im Frühsommer führte die NATO in Polen und dem Baltikum ungewöhnlich große Manöver durch, unmittelbar vor dem NATO-Gipfel in Warschau. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier machte deutlich, dies für ein falsches politisches Signal zu halten. Das Manöver war immerhin langfristig angekündigt und Polen hatte gemäß vertraglicher Verpflichtungen aus dem sogenannten „Wiener Dokument“ Beobachter aus dem gesamten OSZE-Raum hierzu eingeladen, auch aus Russland. Russische Übungen in der Nähe der polnischen Grenze waren hingegen unter bewusster Umgehung des „Wiener Dokuments“ (indem sie als „Alarmübungen“ deklariert wurden) teils weder langfristig angekündigt worden, noch besaßen NATO-Militärs die Möglichkeit, sie zu beobachten. Diese Vorwürfe kommen beispielsweise auch von Rolf Mützenich, einem SPD-Bundestagsabgeordneten, der nicht als Russland-Hardliner bekannt ist (http://www.ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/der-saebel-bleibt-stecken-1509/).
Deutschland und andere Länder verhinderten auch auf diesem NATO-Gipfel in Warschau einen Beschluss, dauerhaft Truppen aus anderen NATO-Staaten in Polen, Estland, Lettland und Litauen zu stationieren, da dies die NATO-Russland-Grundakte verletze. Stattdessen einigte man sich darauf, in den genannten vier Ländern jeweils ein Bataillon mit je einigen hundert Soldaten auf Rotationsbasis zu stationieren. Hieran wird sich Deutschland führend beteiligen.
Wenige Tage nach dem NATO-Gipfel trat der NATO-Russland-Rat zum zweiten Mal in diesem Jahr zusammen. Das erste Treffen im Frühjahr war nicht mehr als ein Symbol gewesen, aber ein wichtiges, denn der Rat hatte in den zwei Jahren zuvor wegen des Widerstands einiger NATO-Länder nicht getagt. Deutschland und einige andere Staaten argumentierten hingegen seit langem, dass man im Fall von Konflikten miteinander reden müsse.
Russland unterbreitete auf dem Treffen einen konkreten Vorschlag, um gefährliche Situationen im Ostseeraum deutlich zu vermindern: Militärflugzeuge sollten in dem Gebiet ihre Transponder einschalten, was eine Ortung wesentlich erleichtert. In den vergangenen Jahren war es mehrfach fast zu Kollisionen zwischen einem Militär- und einem zivilen Flugzeug gekommen. Der russische Vorschlag orientiert sich an einer Initiative des finnischen Präsidenten Sauli Niinisto.
Präsident Putin hat Bundeskanzlerin Merkel einen Tag vor der Sitzung des NATO-Russland-Rats angerufen. Es kann als sicher gelten, dass er die Kanzlerin schon vorab über den russischen Vorschlag informiert hat. Russland ist bewusst, dass Deutschland eine Entspannung wünscht.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg begrüßte den russischen Vorschlag grundsätzlich, und forderte Moskau auf, die Initiative zu konkretisieren. Dies erfolgte Ende August. Russland signalisierte zudem nicht nur seine Bereitschaft, in Bezug auf das oben erwähnte „Wiener Dokument“ mit dem Tricksen aufzuhören, sondern darüber hinaus einseitig über seine vertraglichen Verpflichtungen hinausgehen zu können.
Außenminister Steinmeier sprach sich zeitgleich für einen Neustart in der Rüstungskontrolle aus, die inhaltlich erweitert werden müsse. In den vergangenen Jahren habe es in Bezug auf offensive Cyberfähigkeiten und etwa bewaffneter Drohnen qualitative Neuerungen gegeben, die Regelungen bedürfen. Steinmeiers Äußerungen sorgten bei einigen NATO-Partnern für Unmut.
Die NATO hatte Anfang September auf die russischen Vorschläge noch nicht geantwortet. Dafür gab es umfangreiche Medienberichte, ein russisches habe sich einem amerikanischem Flugzeug in gefährlicher und provozierender Weise genähert (http://www.spiegel.de/politik/ausland/russischer-kampfjet-naehert-sich-us-spionageflieger-ueber-dem-schwarzen-meer-a-1111359.html; www.handelsblatt.com/politik/international/schwarzes-meer-russischer-kampfjet-provoziert-us-flieger/14516978.html).
Es handelte sich offensichtlich um die mediale Vorbereitung dessen, was kurz darauf von der NATO kam: Die russischen Vorschläge wurden abgelehnt. Warum?
- Militärmaschinen der NATO-Staaten schalten ihre Transponder ganz überwiegend ein. Aber es gibt Ausnahmen: US-Flugzeuge unterlassen dies teilweise bei Aufklärungsflügen, was sie beibehalten möchten.
- Kritiker argumentierten, Russland müsse zunächst einnmal seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllen („Wiener Dokument“), danach könne man weiter sehen.
- Die NATO erklärte, für die Umsetzung der russischen Vorschläge seien Gespräche auf militärischer Ebene mit Russland erforderlich. Die NATO habe aber bereits vor zweieinhalb Jahren beschlossen, im NATO-Russland-Rat nur noch auf der politischen, aber nicht mehr auf der militärisch-praktischen Ebene mit Moskau kommunizieren zu wollen.
Dies könnte man leicht dadurch umgehen, dass im NATO-Russland-Rat zwar formell nur auf der politischen Ebene gesprochen wird, in der zweiten Reihe jedoch die militärischen Fachleute teilnehmen. Einige NATO-Länder wollen diesen Kontakt jedoch grundsätzlich nicht.
Sie wollen Russland ausgrenzen – und nicht erst seit der Krim: Die USA und Großbritannien haben den russischen Finanzminister auch in den Jahren zuvor nicht zu den Treffen der G8-Finanzminister eingeladen, anders als Deutschland oder etwa Frankreich. Polen und Litauen haben durch ihr Veto seit 2005 verhindert, dass die EU die Verhandlungen über das Partnerschafts-und Kooperationsabkommen mit Russland weiter führt.
In der NATO war hinter den Kulissen zwischen Deutschland und einigen anderen Ländern auf der einen Seite und den USA und weiteren Hardlinern auf der anderen Seite über Wochen hart gerungen worden. – Ansonsten hätte die NATO bereits Wochen früher erklären können, mit Russland auf der militärischen Ebene nicht sprechen zu wollen. – Beschlüsse der NATO können bereits durch das Veto eines einzigen Landes verhindert werden. Darum wurde auch dieses Mal in der NATO ein Kompromiss geschlossen. Sie lehnte die russischen Vorschläge zwar ab, andererseits gab es Signale der „Falken“, sich in Zukunft nicht mehr gegen regelmäßige Treffen des NATO-Russland-Rats zu sperren.
Meines Wissens hat kein bedeutendes westliches Medium über den russischen Rüstungskontrollvorschlag und die Ablehnung durch die NATO etwas geschrieben. Dieser einseitige Blick scheint mir nichts Neues, lediglich das „Wall Street Journal“ war die rühmliche Ausnahme (http://www.wsj.com/articles/nato-rejects-russian-air-safety-proposal-for-planes-in-baltic-region-1474391644).
Anfang Oktober begann Russland, Raketen im Gebiet Kaliningrad zu stationieren, dem nördlichen Teil des früheren Ostpreußens. Deutschland und einige Gleichgesinnte stimmen sich in diesem Wochen über neue Abrüstungs- und Rüstungskontrollvereinbarungen ab. Die „Falken“ sollen durch konkrete Vorschläge innerhalb der NATO in die Defensive gebracht werden.
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