Das Prestige und die Weltpolitik

Im Frühjahr und Sommer 2014 befand sich Russlands Ansehen auf einem Tiefpunkt: In der UN und bei dem G20-Treffen in Australien, von dem der russische Präsident vorzeitig abreiste, war der Kreml isoliert, aus der G8 heraus geworfen worden.

Es gab aber bereits zu dieser Zeit deutliche Anzeichen, dass die Isolation Russlands nicht so weit ging, wie manche Beobachter glaubten. Gehen wir ein wenig ins Detail:

In einem Resolutionsentwurf forderten im März 2014 sämtliche Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, die zu Recht umstrittene Volksabstimmung auf der Krim, in der sich eine große Mehrheit für die Vereinigung mit Russland ausgesprochen hatte, nicht anzuerkennen, mit lediglich zwei Ausnahmen: Der Kreml legte sein Veto ein und China enthielt sich der Stimme. Bei einem folgenden Votum in der Vollversammlung der Vereinten Nationen stimmten mit 100 Staaten zwar über die Hälfte der UN-Mitglieder für eine ähnliche Resolution und nur elf, u.a. Russland, dagegen. Über 20 Staaten nahmen an der Abstimmung jedoch nicht teil und 53 Mitglieder enthielten sich, neben China beispielsweise Brasilien, Indien und Südafrika, die anderen Mitglieder der „BRICS“. Dies waren bemerkenswerte Signale. Länder des Südens widerstanden auch westlichen Versuchen, Russland nicht nur aus der G8, sondern auch aus den G20 auszuschließen.

Viele Länder außerhalb der euro-atlantischen Welt demonstrieren seit Jahren eine sichtbare und zunehmende Distanz gegenüber einer Weltordnung, die der Westen definiert. Indien hat bspw. 2013, ebenso wie Russland, Maßnahmen erlassen, die die ausländische Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen wesentlich erschweren. Die anti-westliche Zielrichtung war eindeutig. Indien und China sind zudem ebenso wie Russland z.B. zudem nicht bereit, den Kosovo als unabhängigen Staat anzuerkennen.

Russland ist das erste bedeutende Land seit 25 Jahren, das die Deutungshoheit des Westens in weltpolitischen Fragen offen bestreitet und sich sogar darüber hinaus offen und wirkungsvoll dagegen stemmt. Nach dem ersten Beispiel Syrien seit 2011 folgte 2014 die Ukraine. Dies muss insbesondere Washington als Herausforderung betrachten. Aus Sicht der USA musste Russland eine sichtbare Niederlage beigebracht werden, um die Dominanz in weltpolitischen Fragen, die Erosionserscheinungen zeigt, zu wahren bzw. wiederherzustellen. Es geht um mehr als „lediglich“ die Zukunft Assads, der Krim oder selbst der Ukraine.

Diese sichtbare Niederlage konnte Russland jedoch nicht beigebracht werden. Im Gegenteil. Die Neigung, sich dem Westen zu widersetzen, ist in den vergangenen Jahren in zahlreichen Ländern beträchtlich gestiegen. Das Prestige des Westens, seine „Softpower“, hat beträchtlich gelitten. Die Bereitschaft der „außerwestlichen Welt“, Washingtons Politik zu vertrauen und zu folgen, hat seit etwa 2004 beispielsweise aus folgenden Gründen deutlich nachgelassen:

Die Irakinvasion entwickelte sich zu einem Fiasko, in Afghanistan mehrten sich die Probleme. Georgien sah sich 2008 nicht zuletzt durch uneindeutige und fahrlässige Signale aus Washington zu einem Angriff auf Südossetien ermutigt, wurde dann aber allein gelassen. 2011/12 führte der in der westlichen Welt begrüßte und unterstützte „Arabische Frühling“ in der Regel nicht zu mehr Freiheit, sondern zu größerer Unfreiheit, Gewalt und Chaos. Die Erfolgsaussichten einer Westanbindung der Ukraine und der Republik Moldau, in die der Westen viel politisches Kapital gesteckt hat, sind u.a. aufgrund der dortigen oligarchischen Strukturen fraglich. Die mehrere Jahre vertretene westliche Haltung, dass allein die Opposition legitimer Vertreter des syrischen Volkes sei, musste stillschweigend aufgegeben werden. Der Kampf der USA gegen den IS, der im Herbst 2014 mit Luftangriffen aufgenommen wurde, blieb ohne Erfolg. Während Putin auf dem G20-Treffen 2014 ein gemiedener und isolierter Außenseiter war, stand er 2015 im Mittelpunkt des G20-Gipfels. Die Erosion westlichen Prestiges hat sich im vergangenen Jahr noch einmal deutlich beschleunigt.

Deutschland vertrat meist eine deutlich durchdachtere und realistischere Haltung als die USA, ob in Bezug auf den Irak, Libyen oder auch Syrien. Insbesondere Außenminister Steinmeier, mitunter aber auch die Kanzlerin, hat immer wieder und mit Mut versucht, den Konflikt um die Ukraine zu entschärfen. Berlin konnte wiederholt bei weltpolitischen Konflikten deutliche Akzente setzen, dies änderte jedoch leider nur wenig daran, dass eine fahrlässige Politik Washingtons, die häufig durch London und Paris unterstützt wurde, der Glaubwürdigkeit des Westens und der Überzeugung in seine Handlungsfähigkeit und seinen Realismus seit vielen Jahren schweren Schaden zugefügt hat.

Seit Sommer bekunden selbst die Staatsmänner der engsten Verbündeten Washingtons im Nahen Osten eine deutlich wachsende Bereitschaft, mit Moskau zu kooperieren (s. hierzu http://www.cwipperfuerth.de/2015/11/syrien-punktsieg-fuer-moskau/).

In vielen sunnitisch-arabischen Staaten gibt es aus nachvollziehbaren Gründen große Vorbehalte gegenüber der russischen Syrienpolitik. Gleichwohl hat sich Moskau Respekt erworben und sein Prestige beträchtlich gesteigert: Man mag Russlands Vorgehen ablehnen, aber Moskau hat gezeigt, auch bei starkem Gegenwind bei seiner Politik zu bleiben. Russland gilt in der arabischen Welt folglich häufig als zuverlässiger, handlungsfähiger und berechenbarer als die USA.

Die Standfestigkeit Russlands hat auch beträchtliche Rückwirkungen auf die Länder Zentralasiens. Kerry hat kürzlich als erster US-Außenminister überhaupt alle fünf Staaten der Region besucht. Dies ist ein deutliches Signal, sicherheitspolitische Aspekte deutlicher betonen zu wollen als Anliegen von Nichtregierungsorganisationen. Die Annäherung Washingtons ist den Staaten Zentralasiens willkommen, um ihren Wert in den Augen Moskaus und Pekings zu erhöhen, ein glaubwürdiger Akteur, dem man zu folgen bereit ist, wird Washington in ihrer Sicht dadurch aber keineswegs. Ein vertrauenswürdiger Sicherheitsanker kann aus Sicht der Länder Zentralasiens nur Moskau sein. Westliche Versuche, den Einfluss Russlands in Zentralasien zu schwächen, wären fahrlässig, auch mit Blick auf Peking, das von westlich-russischen Kontroversen profitiert.

Russland hat nicht zuletzt auch deshalb die Regierung in Damaskus unterstützt, um den Ländern Zentralasiens, die für Moskau ungleich wichtiger sind als Syrien, Verlässlichkeit zu demonstrieren.

Maximen westlicher Politik waren in den vergangenen 15 Jahren häufig nicht das Mögliche, sondern das Wünschenswerte. Dies hat dazu geführt, dass es um die Spielräume für Entwicklung, Offenheit und Frieden in zahlreichen Ländern heutzutage deutlich schlechter bestellt ist als noch um die Jahrtausendwende.

Der Bedeutungsverlust des Westens ist zwar unvermeidlich. Die Kräfte auf der Welt verschieben sich (s. http://www.cwipperfuerth.de/2015/06/die-wirtschaftliche-dominanz-des-westens-schwindet/; http://www.cwipperfuerth.de/2015/06/griechenland-und-die-ukraine-wie-der-westen-sich-selbst-ein-bein-stellt/; http://www.cwipperfuerth.de/2015/06/brics-schafft-alternativen-zum-westlich-dominieren-finanzsystem/). Aber die ungeregelte Erosion westlichen Prestiges, sowie die mitunter überstürzten Gegenreaktionen des Westens, die wir erleben, sind im Interesse von Niemandem. Außer in demjenigen der Extremisten.

Der IS muss seinen Sympathisanten wie ein David vorkommen, der einen desorientierten und unbedachten Goliath an der Nase herum führt. Dies treibt den Extremisten tausende Kämpfer zu. So kann sich der IS das Image eines „Robin Hood“ zulegen.

Der Westen hat eine zentrale und unentbehrliche Weltordnungsfunktion. Es ist auch für die anderen Weltregionen wünschenswert, dass er auch in Zukunft eine führende Rolle inne hat. Dies setzt voraus, im Westen die Grenzen eigener Gestaltungsmöglichkeiten zu akzeptieren. Zudem müssen – zumindest mittlerweile – weitere Akteure eingebunden werden.