Die Ruhe vor dem Sturm – vermutlich wird bald wieder viel Blut fließen

Im Spätherbst 2014 habe ich Gründe genannt, die für einen erneuten Kriegsausbruch sprechen (http://www.cwipperfuerth.de/2014/11/die-ukraine-vor-ihrem-blutigen-zerfall/). Und diesen hat es Anfang 2015 auch gegeben. Das Abkommen von Minsk von Anfang September 2014 war lediglich ein Waffenstillstand. Das Gleiche ist von Minsk 2 von Mitte Februar 2015 zu befürchten.

Zunächst einmal: Warum wurden die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Spätsommer 2014 bzw. Spätwinter 2015 unterbrochen?

1. Die Rebellen hatten den ukrainischen Streitkräften zuvor empfindliche Niederlagen bereitet. Dies war durch eine zeitlich begrenzte, deutlich verstärkte Unterstützung Russlands ermöglicht worden. Der Kreml wollte jedoch kein weiteres Vorrücken der Separatisten. Er war entweder zu einem Kompromiss bereit, der auch Kiew eine Gesichtswahrung ermöglichte oder er glaubte, weit seine reichenden Ziele auch ohne den weiteren Einsatz von Waffengewalt erzielen zu können.

Die weitreichenden Ziele Russlands waren, zumindest bis in den vergangenen Winter hinein: Es soll erstens dauerhaft gesichert sein, dass die Ukraine der NATO nicht beitritt. Zweitens soll die russische Sprache einen gesicherten offiziellen Status erhalten, möglichst im gesamten Land. Zum dritten soll die Ukraine föderalisiert werden, damit der „russlandfreundliche“ Teil auf Dauer Einfluss auf die Politik Kiews ausüben kann.

2. Kiew war zu einem Waffenstillstand bereit, da ein Zusammenbruch der Streitkräfte drohte (Spätsommer 2014) bzw. weitere empfindliche Verluste zu befürchten waren (Spätwinter 2015). Außerdem stand die Entscheidung des IWF über eine dringend erforderliche weitere Kreditvergabe an. Diese wäre bei einem Anhalten der Kämpfe ernsthaft gefährdet gewesen. Zudem hegten sowohl die Ukraine als auch der Westen die Erwartung, die Rebellen und Moskau durch Sanktionen und politischen Druck in naher Zukunft eine Niederlage zufügen zu können.

Es ist möglich, dass Minsk 2 zu einer Verstetigung des fragilen Friedens in der Ostukraine führt. Die Gefahr einer erneuten Kriegsausbruchs liegt m.E. jedoch bei 75 Prozent, und zwar aus folgenden Gründen:

1. Der Westen sendet deutliche Signale aus, dass erneuter Ausbruch von Kämpfen Russland und den Rebellen zur Last gelegt und zu verschärften Sanktionen führen würde. Dies dürfte die „Kriegspartei“ in Kiew, zu der Präsident Poroschenko nicht zählt, ermutigen, einen erneuten Krieg zu beginnen (der IWF hat die milliardenschweren Kreditzusagen mittlerweile gegeben). Außenminister Steinmeier forderte nicht nur die Rebellen, sondern auch Kiew auf, ernsthaften Friedenswillen zu zeigen. Der vorherrschende westliche Tenor ist leider jedoch ein ganz anderer.

2. Russland sendet deutliche Signale aus, dass erneuter Ausbruch von Kämpfen Kiew zur Last gelegt würde. Dies dürfte die „Kriegspartei“ in den Rebellengebieten ermutigen, einen erneuten Waffengang zu beginnen.

3. Die „Kriegsparteien“ in Kiew und Donezk können davon ausgehen, dass sich die jeweilige Vormacht bei einem erneuten Kriegsausbruch noch deutlicher als bisher auf die eigene Seite stellen wird. Hieran haben beide ein dringendes Interesse. Polen erhält jährlich zwischen zehn und zwölf Milliarden Euro mehr aus der EU-Kasse als es einzahlt. Kiew jedoch erhält lediglich rückzahlbare Kredite. Die nicht rückzahlbaren Zuschüsse beliefen sich im Verlauf des vergangenen Jahres auf einen kleineren dreistelligen Millionenbetrag. Die wirtschaftliche und soziale Lage in den Rebellengebieten ist noch prekärer. Aus Russland kommen zwar Hilfskonvois. Sie bieten jedoch keine tragfähige Grundlage für die zu einem hohen Grad verwüsteten Rebellengebiete. Kurz und schlecht: Ein erneuter Waffengang wäre sowohl für Kiew als auch Donezk zwar mit hohen Risiken verbunden, aber womöglich attraktiver als ein anhaltender Frieden, bei dem ein Zusammenbruch im Innern droht.

4. Kiew schlägt im gesamten Osten und Süden der Ukraine erhebliches Misstrauen entgegen, wie beispielsweise an folgenden Umfragen deutlich wird. Sie wurde in Städten durchgeführt, die im Frühsommer 2014 etwa zwei Monate unter der Kontrolle der Separatisten standen und dann von Kiewer Truppen erobert wurde.

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Die Befragten machten nicht etwa Russland und die Rebellen für das Blutvergießen verantwortlich, sondern ganz überwiegend Kiew und den Westen.

Sie vertraten auch nicht die Ansicht, dass Russland die entscheidende Kraft hinter den Rebellen wäre.

 

 

 

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In Slowjansk, um das im Sommer wochenlange schwere Kämpfe tobten, war nur ein Drittel der – von ukrainischen Instituten – Befragten der Ansicht, Russland sei „Partei im Konflikt im Osten der Ukraine“. Unter zehn Prozent waren der Auffassung, russische Truppen hätten sich an den Kämpfen beteiligt.

Die Abneigung gegenüber Kiew ist nicht mit einer Sympathie für die Rebellen gleichzusetzen. Aber die Loyalität eines großen Teils der Bevölkerung der Ostukraine gegenüber Kiew ist mehr als zweifelhaft. Dies dürfte die Rebellen ermutigen.

5. Das Rebellengebiet umfasst nur wenige Prozent des Territoriums der Ukraine. Es handelt sich um die auf der Karte weiß gekennzeichneten Gebiete, die sich am rechten Rand befinden.

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Die westliche Erwartung, die Rebellen und Russland würden sich mit etwa vier Prozent der Ukraine zufrieden geben, während 96 Prozent stramm Richtung Westen marschieren, ist wirklichkeitsfremd. Präsident Wladimir Putin erklärte vor wenigen Tagen: „Wir in Russland betrachteten die Russen und die Ukrainer immer als ein Volk. Ich bin nach wie vor dieser Ansicht.“

Tatsächlich teilten in den vergangenen Jahren – mit beträchtlichen Schwankungen – lediglich 50 Prozent der Russen Putins Ansicht.

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Die Worte des russischen Präsidenten sind eine Aufforderung an seine Landsleute nicht zuzusehen, dass ein Teil der eigenen Nation, nämlich die ukrainische, einen „anti-russischen“ Weg einschlägt. Zudem macht Putin sehr deutlich, dass das Schicksal der Ukraine für ihn und Russland eine existenzielle Frage ist. Es ist nicht realistisch, eine faktische Kapitulation des Kreml zu erwarten.

Es wird vermutlich noch zu mehreren Kriegsausbrüchen kommen, die lediglich durch Minsk 3, 4 und 5 unterbrochen werden. Meine Prognose von November 2014, dass die Ukraine vor ihrem blutigen Zerfall steht, war bewusst zugespitzt. Aber die Anzeichen deuten nach wie vor darauf hin, dass sie realistisch ist.

Was sollte geschehen um diese Katastrophe zu verhindern?

1. Der Frieden muss sowohl für die Rebellen als auch für Kiew attraktiver als der Krieg sein. Dies erfordert umfangreiche finanzielle und materielle Hilfe – die an strenge Auflagen gebunden werden muss. Kiew und den Rebellen muss in Aussicht gestellt werden, dass viel Geld in die Hand genommen wird, wenn sie auf den Frieden setzen.

2. Der Westen und Russland müssen sichtbaren Druck auf ihre Klientel ausüben, Kompromissbereitschaft zu zeigen.

 

Quellenangaben:

Folie 1: Anmerkung: Insgesamt wurden 510 Menschen in Slowjansk und 500 Menschen in Kramatorsk befragt (Stichprobenfehler: 4,4 %). Quelle: Umfrage des Fonds demokratischer Initiativen (DIF) zusammen mit dem Rasumkow-Zentrum und dem »Ukrainian Sociology  Service« vom 22. bis zum 27. November 2014, <http://www.dif.org.ua/ua/polls/2014_polls/obshestvennavjansk.htm>, in: Ukraine-Analysen 145, S. 15.

Folie 2: Anmerkung: Insgesamt wurden 510 Menschen in Slowjansk und 500 Menschen in Kramatorsk befragt (Stichprobenfehler: 4,4 %). Quelle: Umfrage des Fonds demokratischer Initiativen (DIF) zusammen mit dem Rasumkow-Zentrum und dem »Ukrainian Sociology Service« vom 22. bis zum 27. November 2014, <http://www.dif.org.ua/ua/polls/2014_polls/obshestvennavjansk.htm>, in: Ukraine-Analysen 145, S. 15.

Folie 3: Anmerkung: Insgesamt wurden 510 Menschen in Slowjansk und 500 Menschen in Kramatorsk befragt (Stichprobenfehler: 4,4 %). Quelle: Umfrage des Fonds demokratischer Initiativen (DIF) zusammen mit dem Rasumkow-Zentrum und dem »Ukrainian Sociology Service« vom 22. bis zum 27. November 2014, <http://www.dif.org.ua/ua/polls/2014_polls/obshestvennavjansk.htm>, in: Ukraine-Analysen 145, S. 16.

Folie 4: http://www.electoralgeography.com/new/en/wp-content/gallery/ukraine2014l/Ukrainian_parliamentary_election,_2014.png

Folie 5: Umfragen des Lewada-Zentrums vom 7.–10.03.2014, N = 1603. Veröffentlicht am 14.03.2014 unter: <http://www.levada.ru/print/14-03-2014/rossiyane-ob-otnosheniyakh-s-ukrainoi>, in: Russlandanalysen 274, S. 10.

 

Ein Gedanke zu „Die Ruhe vor dem Sturm – vermutlich wird bald wieder viel Blut fließen“

  1. Erst einmal möchte ich für das interessante Umfragematerial danken, in diesem wie auch in früheren Artikeln.

    Dem Pessimismus hinsichtlich der Gefahr eines Neu-Aufflammens der Kämpfe in der Ostukraine kann ich mich nicht anschließen.

    zu Grund 1/3 (Westen): Die Signale des Westens sind nicht mehr so eindeutig, da sich inzwischen sieben EU-Staaten explizit gegen weitere Sanktionen aussprechen. Eine bröckelnde Front schwächt nicht nur die Verhandlungsposition gegenüber Russland, sondern gefährdet auch Bestrebungen, die EU-Integration voranzutreiben. So können Steinmeiers warnende Worte in Richtung Kiew durchaus als Konsens weiter Teile zumindest des „alten Europa“ gelten. Der durch Kolomojskyj provozierte „Oligarchenstreit“ schwächt die Kiewer Regierung zusätzlich, insbesondere in militärischer Hinsicht.

    zu Grund 2/3 (Russland): Die Tatsache, dass zum wiederholten Mal ein Abkommen mitten in einer Offensive der Separatisten geschlossen wird, kann nur so interpretiert werden, dass Kiew dazu gezwungen wurde. Es war demnach nicht Russland, das an einer Fortsetzung des militärischen Konflikts interessiert war. Warum sollte Moskau dann jetzt die Rebellen ermutigen? Vielmehr kostete es einige Mühe, sie im Zaum zu halten, nachdem Kiew sich weigerte, dem Donbass einen Sonderstatus gemäß den Bestimmungen von Minsk II zuzugestehen.

    Gegen eine Fortsetzung des militärisches Konflikts spricht auch, dass sowohl die westliche als auch die russische Seite sichtlich bemüht sind, Voraussetzungen für eine effektivere Überwachung des Waffenstillstands zu schaffen.
    Sollte Kiew sich weiterhin einer Autonomieregelung wiedersetzen, wird Russland seine Hilfelieferungen für den Donbass fortsetzen und möglicherweise verstärken müssen. Ein eingefrorener Konflikt erscheint gegenwärtig dennoch realistischer als ein neuer Waffengang.
    Die Restukraine wird so bald nicht zur Ruhe kommen. Dafür sorgen die wachsende Unzufriedenheit angesichts der materiellen und sozialen Verschlechterungen wie auch der (noch) latente Widerstand seitens des bedeutenden russlandfreundlichen Bevölkerungsteils.

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