Ende August: Kiew in der Defensive

Am 2. Juli begannen die Truppen Kiews eine Offensive in der Ostukraine. In den folgenden Wochen drängten sie die Separatisten weit zurück. Die folgende Karte zeigt die Situation (aus Kiewer Sicht) am 2. August.
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Mitte August schien der militärische Sieg Kiews möglicherweise nur noch eine Frage von Tagen zu sein. Das Vorrücken der Einheiten Kiews kam jedoch ins Stocken, und am 26. August gaben die Separatisten sogar bekannt, tausende ukrainische Soldaten sowie Milizionäre, die auf Seiten Kiews kämpfen, eingekesselt zu haben. Die Gegner der ukrainischen Regierung erzielten darüber hinaus in den folgenden Tagen weitere Geländegewinne. Warum wendete sich das Blatt?
Vor einigen Tagen wurden zehn russische Fallschirmjäger von ukrainischen Soldaten festgenommen, 20 Kilometer innerhalb der Ukraine. War dies der erste handfeste Beweis dafür, dass nicht nur russische Freiwillige auf Seiten der Separatisten kämpften, sondern sogar reguläre Armeeangehörige? Das ist denkbar, aber nicht wahrscheinlich, denn die russischen Soldaten hatten ihre Personaldokumente bei sich und wurden mit ungeladenen Waffen aufgegriffen. Sie gaben an, sich verlaufen zu haben. Sonderlich glaubwürdig ist diese russische Version nicht. Aber können zehn Soldaten mit nicht geladenen Waffen, die sich ausweisen, als Beleg für eine „Invasion“ gelten?
Am 29. August wurden von Seiten der NATO Satellitenfotos veröffentlicht, die ein massives russisches Eingreifen belegen sollen. Sie datieren vom 21. August. Warum ließ sich die NATO über eine Woche Zeit, uns über eine „russische Invasion“ zu informieren? Die Fotos lassen zahlreiche weitere Fragen offen, sie kommen beispielsweise nicht von militärischen Aufklärungssatelliten, sondern einem privaten Unternehmen und weise eine niedrige Auflösung auf. Sie wurden zudem nicht von Generalsekretär Rasmussen vorgestellt, auch nicht vom Oberkommandierenden Breedlove, sondern von einem NATO-Vertreter, der anonym blieb. Warum? Und falls es tatsächlich eine „Invasion“ gibt, warum wurden in den vergangenen zwei Tagen nicht weitere – am besten stichhaltige – Belege dafür zur Verfügung gestellt?
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es sich um Fälschungen handelt, von welcher Seite auch immer. Am 24. April hatte US-Außenminister John Kerry bereits in Form von Fotos Belege für die Anwesenheit russischer Agenten vorgelegt. Es wurde aber rasch offenkundig, dass die von der ukrainischen Regierung zur Verfügung gestellten Fotos bearbeitet und als Nachweise untauglich waren. Washington hatte sich nicht veranlasst gesehen, die von Kiew zur Verfügung gestellten Fotos zu prüfen, was ohne großen Aufwand möglich gewesen wäre. Die USA übten auch keine öffentliche Kritik an den ukrainischen Fälschungen. Washington verhängte im Gegenteil weitere Sanktionen.
Für ein direktes militärisches Eingreifen Russlands gab und gibt es keine hinreichenden Belege. Gleichwohl sprachen einige Außenminister von EU-Staaten am 29. August von einer „russischen Invasion“, Außenminister Steinmeier jedoch nicht. Am heutigen 30. August werden die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder die Strafmaßnahmen gegen Russland vermutlich verschärfen. Weil es bekanntermaßen eine „russische Invasion“ gegeben habe.
Die russische Seite hat ihre indirekte Unterstützung für die Gegner Kiews in den vergangenen Wochen jedoch sehr wahrscheinlich verstärkt. Moskau will einen militärischen Sieg Kiews verhindern.
Die Entwicklung steuert somit auf ein „syrisches Szenario“ zu, einen möglicherweise lang anhaltenden Krieg. In Syrien unterstützt Russland die Regierung, der Westen hingegen die bewaffnete Opposition. In der Ukraine haben wir es mit einem Rollentausch zu tun. Die Konflikte sowohl in Syrien als auch der Ukraine tragen Züge von Stellvertreterkriegen. Wenn eine der Bürgerkriegsparteien ins Hintertreffen zu geraten droht, verstärkt die jeweilige „Schutzmacht“ ihre Unterstützung. Dies ist aus US-Sicht ein höchst provokatives Verhalten Russlands. Russland ist seit über 20 Jahren das erste und bislang einzige Land, das offen nicht dulden will, dass in Washington definiert wird, welche Regierung oder Oppositionsbewegung als legitim oder illegitim zu gelten hat.
Sowohl der Krieg in Syrien als auch in der Ukraine besaß und besitzt zudem innenpolitische Ursachen. Separatisten besetzten während des gesamten Frühjahrs Polizeistationen, Kasernen oder sogar regionale Hauptquartiere des Geheimdienstes, ohne auch nur einen Schuss abzugeben. Eine Minderheit der staatlichen Sicherheitsorgane wechselte offen die Seite, ein großer Teil blieb passiv. Die große Mehrheit der Menschen in der Ostukraine betrachtet die Führung in Kiew nicht als die ihre. (S. http://www.cwipperfuerth.de/2014/08/die-ukraine-der-westen-und-russland-fruehjahr-und-sommer-2014/) Auch jetzt ist ein großer Teil der ukrainischen Soldaten offensichtlich nicht oder nur eingeschränkt bereit zu kämpfen. Die Armee meidet Nahkämpfe, sondern versucht den Gegner mit Artillerie- und Luftwaffenbeschuss zu zermürben. Die Separatisten konnten am 28. August die Stadt Nowoasowsk fast ohne jeden Widerstand einnehmen.
Einen Waffenstillstand lehnt Kiew ab. Der von Präsident Poroschenko kürzlich vorgelegte Friedensplan ist nicht glaubwürdig. Poroschenko hat einen ähnlichen Plan bereits im Juni vorgelegt, das ukrainische Parlament hat erste Schritte zur Umsetzung aber verhindert. Kiew ist zu einem Kompromiss nicht bereit, weil es den Westen hinter sich weiß.
Dabei ist ein Ausweg bereits klar umrissen, nämlich in der Übereinkunft der Außenminister Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine vom 2. Juli: Erstens: Ein sofortiger Waffenstillstand, zweitens: Russland willigt ein, die Grenze zur Ukraine nicht nur international, sondern auch von ukrainischen Grenzbeamten innerhalb Russlands überwachen zu lassen. (Weitere Vorschläge finden Sie unter
http://www.cwipperfuerth.de/2014/08/auswege-aus-der-spirale-von-gewalt-und-sanktionen/)
Die Ukraine hat nur eine Zukunft als Staat zwischen dem Westen und Russland. Der Versuch, sie auf eine Seite zu ziehen, hat bereits tausende Menschenleben gekostet und könnte zum endgültigen Ende der territorialen Einheit, sowie dem wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch des gesamten Landes führen.
Wir befinden uns in der gefährlichsten internationalen Krise seit Jahrzehnten. Die Konsequenzen könnten dramatisch sein. (S. http://www.cwipperfuerth.de/2014/08/die-ukraine-russland-und-der-westen-was-wird-geschehen-wenn-gewalt-und-konfrontation-anhalten/)

 

Quelle der Karte: http://mediarnbo.org/wp-content/uploads/2014/08/02-08_eng.jpg

8 Gedanken zu „Ende August: Kiew in der Defensive“

  1. Lieber Herr Wipperfürth, ich hatte Sie schon nach Ihrer Einschätzung der jüngsten Entwicklung fragen wollen, da kommt Ihre aktuelle Beurteilung. Ich als „Laiin“ bin völlig verwirrt bin über das, was ich in den Nachrichten lese und höre. Danke für Ihre Bemühung um Klärung. Das als erste kurze Reaktion – in der Hoffnung, eine weitere Eskalation kann noch abgewendet werden. Doris Nienborg

    1. Liebe Frau Nienborg,
      danke für Ihre Nachricht! Ich hoffe es auch, die Situation ist brandgefährlich.
      Beste Grüße von
      Christian Wipperfürth

  2. Die Außenpolitik Moskaus derzeit ist eine Rückbesinnung auf die Außenpolitik von Katharina II:
    Erfüllung der Vorgabe von Ivan I, die Kiew Rus wieder einzusammeln, und Sicherung eines Zugangs zum Schwarzen Meer.

    Letzteres geschah und geschieht unter dem Stichwort NEURUSSLAND, das die südliche, ehedem osmanische und tatarische Steppenregion meint, in der traditionell keine Slawen lebten, vom Dnjester im Süd-Westen der Ukraine bis zum Asow-Meer im Süd-Osten.
    Die erstgenannten Vorgabe, das Einsammeln der Kiew Rus, kollidiert mit der Außenpolitik Polens, das als Polen-Litauen die Gebiete westlich des Dnepr und nördlich von Krementschuk über Jahrhunderte als sein Eigen betrachtet hat mit allen Facetten der kulturellen Entwicklung dort. Polen möchte nicht, dass sich diese „polnischen“ Gebiete zukünftig unter Moskaus Herrschaft wiederfinden, auch einer der Beweggründe Polens, das EU-Projekt „Östliche Partnerschaft“ in Gang zu setzen. Es ist wohl anzunehmen, dass Herr Tusk diese Politik auch in seinem neuen Amt in Brüssel weiter verfolgen wird.

    Eine Teilung der Ukraine in die Länder NEURUSSLAND und (REST-)UKRAINE scheint sich anzubahnen, mit à la longue NEURUSSLAND in der Eurasischen Wirtschaftsunion und (REST-)UKRAINE in der Europäischen Union.
    Offen ist, wo die Gebiete östlich des Dnepr und nördlich von Krementschuk, die von 1654 bis 1919 einschließlich Kiew russisch waren, verbleiben. Wo wird sich Kiew wieder finden?

    Die Ukraine mit ihrem Korruptionschaos bis in die politische Führung hinein hat von 1991 bis 2013 nicht erkannt, dass diese beiden Teile zu einer Nation zusammen zu bringen sind, geschweige denn versucht oder gar erreicht.

    Obendrein wurde der Zusammenhalt dieser beiden Länder in einer Föderativen Republik UKRAINE mit einem Status der Neutralität in Brüssel und Washington verschlafen, auf dem Majdan Platz allemal.

    1. Lieber Herr Bonnenberg, hoffentlich bricht die Ukraine nicht auseinander. Es wäre eine Katastrophe für Millionen Menschen. Und die weltpolitischen Auswirkungen wären noch weit negtiver als beim Ende Jugoslawiens. Die Ukraine hat als geeinter Staat nur eine Zukunft zwischen dem Westen und Russland, in Kooperation mit beiden. Ihre Skepsis gegenüber Tusk teile ich. Er hat sich in der Krise als Scharfmacher hervorgetan. Beste Grüße von Christian Wipperfürth

  3. Sehr geehrter Herr Wipperfürth,

    wir erleben gerade eine weitere Exalationsstufe der Konfrontation zwischen Russland und der „westlichen“ Welt, die mit dem Georgienkrieg von 2008 einen der Höhepunkte erreicht hat und nun mit der Ukraine-Krise ins Unermessliche zu steigen scheint. Die Kontahenten bekämpfen sich aufs Schärfste und scheinen vor nichts mehr Halt machen zu wollen. Die breite Öffentlichkeit wird mithilfe der Massenmedien aneinander gehetzt und anscheinend auf das Schlimmste vorbereitet. Dieser Wahnsinn muss schleunigst gestoppt werden. Aber wie? Die vereinzelten kritischen Stimmen wie Ihre finden im besten Fall kein Gehör, im schlimmsten werden sie sogar diffamiert und ausgegrenzt.

    1. Sehr geehrter Herr Weirich,
      habenSie Dank für ihren Kommentar.
      Tun wir, was wir können. Auch wenn es vielleicht völlig ungenügend sein mag. Womöglich hat es doch eine Wirkung.
      Es grüßt Sie
      Christian Wipperfürth

    1. Sehr geehrter Herr Tauss,
      vielen Dank für Ihre Rückmeldung.
      Es grüßt Sie
      Christian Wipperfürth

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