Umbruch in Russland? Eine Zwischenbilanz. Folge I

Seit Anfang Januar wurde in mehreren Beiträgen das Ringen zwischen der Opposition und der Führung dargestellt und gedeutet. Nunmehr werden nicht die täglichen politischen Finten und Signale der Führung des Landes und ihrer Widersacher im Vordergrund stehen, sondern die Analyse der Hintergründe und des Verlaufs der bisherigen Entwicklung. Hierbei werde ich in meinen Blogs bereits angesprochene analytische Elemente wieder aufgreifen, sie vertiefen und systematisieren. Dies gilt für den heutigen Blog und zumindest dem nächsten, der spätestens am 28. Februar ins Netz gestellt wird. Aktuelle Entwicklungen werden aufgegriffen und in den analytischen Rahmen eingeordnet.

 

Welche grundlegenden Ursachen gibt es für die Massendemonstrationen?

2005 führte die Weltbank eine Untersuchung in 26 Transformationsstaaten durch. Die Befragten in Russland brachten hierbei der Justiz ihres Landes ein geringeres Vertrauen entgegen als diejenigen in jedem der übrigen 25 Länder. Russen sind im Durchschnitt seit langem überaus unzufrieden mit den Verhältnissen in ihrem Land. (Die Ursachen dieser Haltung seien hier dahingestellt.) Die Bevölkerung ist darüberhinaus seit vielen Jahren anhaltend skeptisch, ob die Führung die Fähigkeit und Bereitschaft besitzt, eine Verbesserung der sozial- und innenpolitischen Lage zu erzielen, wie beispielsweise folgende Umfrage deutlich macht:

Quelle: Umfragen des Lewada-Zentrums vom 19.–22. November 2010 , http://www.levada.ru./press/2010120902.html, in:Russlandanalysen212

Gleichwohl stand lange Jahre eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung hinter Putin: Er brachte Stabilität nach den für die große Mehrheit der Bevölkerung traumatischen 90er Jahren. Im Verlauf der Zeit verblasste die Vergangenheit und die Mängel der Gegenwart rückten stärker in den Blick, nicht zuletzt die soziale Schieflage:

Quelle: Umfragen des Lewada-Zentrums, zuletzt vom 13.–16. Mai 2011, http://www.levada.ru./press/2011060802.html, in: Russlandanalysen 224

Darüberhinaus haben viele Millionen Russen in den vergangenen Jahren ein hohes Ausmaß an materieller Sicherheit erlangt. Dies ermöglicht zahlreichen Menschen, nicht sämtliche Kräfte für die Sicherung ihrer materiellen Existenz aufbringen zu müssen, sondern über den Tellerrand hinauszuschauen und sich für das Allgemeinwohl engagieren zu können.

Quelle: repräsentative Umfragen des Lewada-Zentrums, http://www.levada.ru/press/2011042903.html, in: Russlandanalysen 222

Welche Rolle spielte Medwedew in diesem Prozess?

Aus den oben genannten Gründen war bereits 2007/08 offenkundig, dass die gesellschaftliche Nachfrage nach tiefgreifenden Reformen seit der Jahrhundertwende beträchtlich gewachsen war. Dies war eine der zentralen Ursachen dafür, dass Dmitri Medwedew, der bereits seit Jahren den liberalen Zweig der russischen Elite mit anführte, Präsident wurde. Das politische Regime benötigte eine auch nach Außen sichtbare Verbreiterung der Basis, stärker ins reformwillige Lager hinein.

Seit 2009/10 bestimmte der Ruf nach einer Modernisierung die öffentliche Diskussion, reformerische Positionen wurden „hoffähig“. Es wurden auch praktische Schritte eingeleitet, deren Auswirkungen jedoch begrenzt blieben. Die Beharrungstendenzen waren zu stark. Der Pluralismus der Presse sowie die Kritik- und auch Handlungsbereitschaft der Öffentlichkeit wuchsen gleichwohl deutlich an. Es gab spätestens seit 2010 zahlreiche Berichte über Missstände, die dazu beitrugen, dass die Bevölkerung einen zunehmend kritischen Blick auf die Zustände im Lande warf:

Quelle: Umfragen des Lewada-Zentrums, zuletzt vom 13.–16. Mai 2011, http://www.levada.ru./press/2011060802.html, in: Russlandanalysen 224

Zudem verblasst der lange Schatten, den der Terror der Stalinjahre geworfen hatte. Die Erinnerung und somit die Angst vor Repressionen schwand. Die Menschen sehen sich durch die Reaktion der Staatsmacht in diese Winter in ihrem Eindruck bestätigt, dass ein massiver Einsatz von Gewalt nicht ansteht. Die Hemmschwelle vor ihrem Einsatz ist deutlich höher als in der Vergangenheit. Ganz grundsätzlich: Russland ist nach ihrem Eindruck im letzten Jahrzehnt, trotz alledem, rechtsstaatlicher geworden.

Quelle: Umfragen des Lewada-Zentrums vom 17.–21.12.2010 http://www.levada.ru/press/2011012000.html, in Russlandanalysen 214

Alle genannten Faktoren erleichtern die Herausbildung und Artikulation einer Proteststimmung.

 

Welche Rolle spielte der im September 2011 angekündigte Ämtertausch zwischen Medwedew und Putin?

Die Bedürfnisse eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung hatten sich in den Jahren des Wirtschaftsaufschwungs zwischen 1999 und 2008 gewandelt. Der Kreml benötigte stärkere demokratische Elemente, um weiterhin die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung zu generieren. Ohne dieses Zeichen, Stabilität mit einer Öffnung verbinden zu wollen, ohne die Präsidentschaft Medwedews, wäre womöglich bereits 2008 erheblicher Widerstand gegen die Führung provoziert worden. Der Teil der Bevölkerung, der sich von Medwedews Agenda der Modernisierung und Öffnung angesprochen wurde, fühlte sich durch die Ankündigung der Rückkehr Putins in den Kreml nicht nur provoziert und hinters Licht geführt. Er war auch politisch heimatlos geworden, wandte sich von der herrschenden Elite ab und spielt eine führende Rolle in der derzeitigen Protestbewegung.

Putin sprach davon, dass diese Rochade bereits vor Jahren zwischen den beiden Tandempartnern vereinbart worden sei. Meines Erachtens sprechen zu viele Indizien gegen diese Version. Putin und Medwedew hielten sich die Option der Rückkehr Putins in den Kreml lediglich offen. Ich denke, dass beide erst im Verlauf des Frühjahrs und Sommers 2011 zu der Ansicht kamen, dass Putin wiederum Präsident werden sollte, wobei sich Medwedew nur widerwillig beugte. Er erfuhr aber zu wenig Unterstützung, um die er sich bemühte, um wieder als Kandidat für das Amt des Staatsoberhaupts antreten zu können. Hauptgrund für den Ämtertausch war die erkennbare Unruhe in der Gesellschaft, die die Rückkehr des „starken Mannes“ an die Spitze zu erfordern schien, um die Entwicklung nicht aus dem Ruder laufen zu lassen. Aber genau dies ist nunmehr womöglich geschehen.

 

Welche Rolle spielten Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen?

Einige Beobachter vermuten, das Ergebnis von „Edinaja Rossija“ sei um bis zu 15% geschönt worden. Dem widerspricht, dass die Prognosen, die vor den Wahlen auch vom kremlkritischen „Lewada“-Institut abgegeben wurden, sich etwa mit dem amtlich verkündeten Endergebnis decken. Wenn man vom Nordkaukasus absieht, kam es allem Anschein nach insbesondere in Moskau jedoch zu erheblichen Unregelmäßigkeiten im Wahlprozess. Der offiziell festgestellte Stimmenanteil von „Einiges Russland“ lag in Moskau 2011 über dem Landesdurchschnitt, während er bei den vorhergehenden Wahlen durchweg darunter gelegen hatte. Zudem gab es 2011 deutliche Unterschiede im Abstimmungsverhalten zwischen verschiedenen Territorialwahlkreisen in Moskau, die Anteile für „Edinaja“ schwankten zwischen 32% und 53%. Vergleichbare Anomalien waren weder 2007 zu beobachten gewesen noch traten sie bei den Wahlen von 2011 in St. Petersburg auf, wo „Edinaja“, je nach Territorialwahlkreis, zwischen 30% und 35% der Stimmen erhielt.

Die offensichtlichen und erheblichen Unregelmäßigkeiten vor allem in Moskau erklären, warum in der Hauptstadt im Dezember Großdemonstrationen stattfanden, während in St. Petersburg, in dem demokratische Kräfte ähnlich stark sind, nur wenige Tausend Menschen auf die Straßen gingen. In den anderen Millionenstädten waren es meist nur einige Hundert.

 

Wie ist das Ergebnis der Dumawahlen vom 4. Dezember 2011 zu beurteilen?

Das Ergebnis war eine schallende Ohrfeige für die politische Führung des Landes. Es war ein Misstrauensvotum insbesondere der Bewohner der Metropolen. Wladimir Putin, der „Einiges Russland“ seit Herbst 2007 vorsteht, ohne der Partei jedoch anzugehören, sucht seitdem deutliche Distanz zu „Edinaja“.

In: Russlandanalysen 233, Seite 17

Wie reagierte die politische Führung im Dezember auf die aufkommenden Proteste?

Die russische Führung wurde vom Ausmaß und der Dynamik der Proteste nach den Dumawahlen offensichtlich überrascht. Ministerpräsident Putin reagierte mit Entschlossenheit und zunächst mit Härte, sowohl inhaltlich als auch rhetorisch. Er behauptete, die Demonstranten würden von Kräften außerhalb Russlands geleitet und bezahlt. Diese Ansicht wird jedoch nur von etwa einem Viertel der Bevölkerung geteilt.

Mitte Dezember bezeichnete er die Oppositionsführer als „Bandar-Log“. Es handelt sich hierbei um eine Gruppe machtversessen-böswillig-verspielt-oberflächlicher Affen aus dem „Dschungelbuch“ Rudyard Kiplings, einem in Russland sehr bekannten Werk.

Zugleich betonte Putin jedoch, das bei den Protesten deutlich gewordene umfangeiche bürgerschaftliche Engagement zeuge nicht zuletzt von der erfolgreichen Modernisierungspolitik der Führung Russlands. Von Präsident Medwedew kamen keinerlei abschätzige Bemerkungen an die Adresse der Demonstranten.

Die staatlich kontrollierten Fernsehanstalten schwiegen die Proteste, die in den ersten Tagen nach der Dumawahl stattgefunden hatten zunächst tot. Von den Großdemonstrationen am 10. und 24. Dezember wurde jedoch intensiv und recht ausgewogen berichtet. Der Führung war bewusst geworden, dass die Protestierenden keineswegs randständig waren, wie in den Jahren zuvor, sondern erheblichen Rückhalt in der Bevölkerung fanden. Und nicht nur unter den „normalen Bürgern“: Ein großer Teil der Journalisten der Fernsehsender drohte mit einer Einstellung der Arbeit einzustellen, falls über die Proteste weiterhin nicht bzw. einseitig berichtet werden sollte. Die Führung des Landes wollte keine Eskalation und sandte ungewohnte Signale des Entgegenkommens aus.

Die traf auch auf die kommenden Wochen zu, die im nächsten Beitrag systematisch analysiert werden.